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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Diese Motive können nur in specifisch würtembergischen Voraussetzungen
beruhen. Denn mit diesen muß Herr von Varnbüler rechnen, wenn er sich
auf dem Sammt des Ministersessels behaupten will. Daß er überwiegend von
der Stimmung des Landes regiert wird> glaube ich durchaus nicht. Denn die
Stimmung des Landes ist in sich unklar und wird bei einem Theile der Be¬
völkerung regiert von den allerkleinlichsten Interessen. Ob das Maß Getränk
um einen Kreuzer aufschlägt, oder das Packet Tabak einen halben Kreuzer
theuerer wird, -- das sind die hohen und wichtigen Dinge und Fragen,
um welche sich diese so frische und fromme, fröhliche und freie Realpolitik
dreht. Und dabei untersucht man nicht die Wirklichkeit der Dinge, sondern
begnügt sich mit dem Schein. Alle Welt weiß, daß die Frage des Eintritts
von Würtemberg in den norddeutschen Bund mit der Branntweinsteuer nichts
zu thun hat, und daß auch der Zollvertrag vom 8. Juli d. I. hier an dem bis¬
herigen Stande dieser Frage gar nichts ändert. Gleichwohl glaubt -- warum?
das ist nicht ersichtlich -- die Mehrzahl aller Würtenberger an die von
Preußen drohende Vertheuerung des Branntweins so fest, wie an ein Evan¬
gelium; und das Durchschnittsurtheil der Ungebildeten läuft darauf hinaus,
daß zwar die "deutsche Einheit" ein recht schönes Ding, aber daß billiger
Schnaps ohne Einheit besser sei, als theuerer mit Einheit.

Einer solchen Theorie gegenüber, selbst wenn sie (was bei der Art,
wie sich in Würtemberg die Volksvertretung componirt, bekanntlich durchaus
nicht der Fall ist) in der Möglichkeit wäre, ihrer politischen Anschauung
einen klaren und wirksamen Ausdruck zu geben, hat Herr von Varnbüler
solche Opfer, wie er sie in seiner Philippika gegen den norddeutschen Bund,
gewiß nicht ohne schweres Widerstreben, gebracht hat, nicht nöthig. Das
kann er ja billiger haben.

Man muß daher, um sich seine Handlungsweise zu erklären, annehmen,
daß die Stimmung an einem höhern Orte gewechselt hat, sei es durch eine
spontane Reaction gegen den 30. und 31. October, sei es durch Einwirkungen
von Wien oder von Paris, wo man bekanntlich wieder sehr oben auf ist,
seitdem die Chassepots, auf das heilige Gebiet von Rom verpflanzt, Wunder
gethan haben, -- Wunder, woran in dem ungläubigen Norden, der in seiner
Ketzerei an die Zündnadel glaubt, vielleicht noch Heterodoxe zweifeln. Denn
es glaubt natürlich jeder an seinen eigenen Heiligen. Aber ebensowenig wie
Herr Mittnacht, der von ihm zum Justizminister empfohlene Großdeutsche, ist
Herr v. Varnbüler ein Fanatiker oder ein Phantast. Kühl bis ans Herz hinan
glaubt er weder an Heilige noch an Wunder. Allein er ist klug genug, daß,
wenn jemand, von dem seine Stellung abhängt, an den Saint-Chassepot glaubt,
er sich wohl hütet, in dieser Richtung den Schein einer Ketzerei auf sich zu
laden. Hier zu Lande aber wechselt der Glaube zum öfteren, und man er-


Greuzboten I. 1868. !)

Diese Motive können nur in specifisch würtembergischen Voraussetzungen
beruhen. Denn mit diesen muß Herr von Varnbüler rechnen, wenn er sich
auf dem Sammt des Ministersessels behaupten will. Daß er überwiegend von
der Stimmung des Landes regiert wird> glaube ich durchaus nicht. Denn die
Stimmung des Landes ist in sich unklar und wird bei einem Theile der Be¬
völkerung regiert von den allerkleinlichsten Interessen. Ob das Maß Getränk
um einen Kreuzer aufschlägt, oder das Packet Tabak einen halben Kreuzer
theuerer wird, — das sind die hohen und wichtigen Dinge und Fragen,
um welche sich diese so frische und fromme, fröhliche und freie Realpolitik
dreht. Und dabei untersucht man nicht die Wirklichkeit der Dinge, sondern
begnügt sich mit dem Schein. Alle Welt weiß, daß die Frage des Eintritts
von Würtemberg in den norddeutschen Bund mit der Branntweinsteuer nichts
zu thun hat, und daß auch der Zollvertrag vom 8. Juli d. I. hier an dem bis¬
herigen Stande dieser Frage gar nichts ändert. Gleichwohl glaubt — warum?
das ist nicht ersichtlich — die Mehrzahl aller Würtenberger an die von
Preußen drohende Vertheuerung des Branntweins so fest, wie an ein Evan¬
gelium; und das Durchschnittsurtheil der Ungebildeten läuft darauf hinaus,
daß zwar die „deutsche Einheit" ein recht schönes Ding, aber daß billiger
Schnaps ohne Einheit besser sei, als theuerer mit Einheit.

Einer solchen Theorie gegenüber, selbst wenn sie (was bei der Art,
wie sich in Würtemberg die Volksvertretung componirt, bekanntlich durchaus
nicht der Fall ist) in der Möglichkeit wäre, ihrer politischen Anschauung
einen klaren und wirksamen Ausdruck zu geben, hat Herr von Varnbüler
solche Opfer, wie er sie in seiner Philippika gegen den norddeutschen Bund,
gewiß nicht ohne schweres Widerstreben, gebracht hat, nicht nöthig. Das
kann er ja billiger haben.

Man muß daher, um sich seine Handlungsweise zu erklären, annehmen,
daß die Stimmung an einem höhern Orte gewechselt hat, sei es durch eine
spontane Reaction gegen den 30. und 31. October, sei es durch Einwirkungen
von Wien oder von Paris, wo man bekanntlich wieder sehr oben auf ist,
seitdem die Chassepots, auf das heilige Gebiet von Rom verpflanzt, Wunder
gethan haben, — Wunder, woran in dem ungläubigen Norden, der in seiner
Ketzerei an die Zündnadel glaubt, vielleicht noch Heterodoxe zweifeln. Denn
es glaubt natürlich jeder an seinen eigenen Heiligen. Aber ebensowenig wie
Herr Mittnacht, der von ihm zum Justizminister empfohlene Großdeutsche, ist
Herr v. Varnbüler ein Fanatiker oder ein Phantast. Kühl bis ans Herz hinan
glaubt er weder an Heilige noch an Wunder. Allein er ist klug genug, daß,
wenn jemand, von dem seine Stellung abhängt, an den Saint-Chassepot glaubt,
er sich wohl hütet, in dieser Richtung den Schein einer Ketzerei auf sich zu
laden. Hier zu Lande aber wechselt der Glaube zum öfteren, und man er-


Greuzboten I. 1868. !)
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/73>, abgerufen am 02.10.2024.