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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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mehr dazu befähigt waren, die Dinge von einem großen, wahrhaft politi¬
schen Standpunkt zu übersehen.

Das halbe Jahrhundert, welches zwischen damals und heute liegt, hat
mit den ungeheuren Umwälzungen, welche es brachte, auch an den An¬
schauungen der deutschen Aristokratie vieles geändert. Daß der Inhalt
dieser Anschauungen ein wesentlich anderer ist, oder doch ein anderer sein
kann -- davon legen die vier "Skizzen über die Lage Europas", mit welchen
Graf Münster der Sohn die Herausgabe der Hinterlassenschaften seines
Vaters begleitet hat, in erfreulicher Weise Zeugniß ab. Der hannoversche
Erblandmarschall stellt sich mit bewußter Entschiedenheit auf den Boden der
1866 gewordenen Thatsachen, er wirft das hohe Haus Hannover für immer zu
den Todten und läßt "die Todten ihre Todten begraben." Er geht aber noch
einen Schritt weiter -- er entzieht sich dem Bekenntniß nicht, daß das Loos
der welfischen Dynastie ein verdientes gewesen sei und nennt die Verblendeten,
welche auf eine mit französischer Hilfe zu ermöglichende Restauration speculiren,
Verräther an der Sache ihrer Nation und ermahnt sie, nicht zu vergessen,
daß sie, wenn auch nicht mehr Hannoveraner, so doch Deutsche geblieben seien.

Auch in Beziehung auf innere Fragen begegnen wir hier und da einer
Gesundheit des Urtheils, von welcher zu wünschen wäre, daß sie die Regel,
nicht die Ausnahme in den Kreisen unsrer grundbesitzenden Familien bilde. Der
Verfasser spricht sich entschieden gegen alle Versuche, den Absolutismus neu zu be¬
leben, aus und hält das Repräsentativstem für nothwendig und historisch be¬
gründet, nachdem die alten ständischen Verfassungen ihren Boden verloren und
an dem Mangel einer Aristokratie zu Grunde gegangen. Mit großer Klarheit
wird dieser Mangel darauf zurückgeführt, "daß die deutschen.Fürsten einen un¬
abhängigen, grundbesitzenden, politisch gebildeten Adel mit unabhängiger Ge¬
sinnung nicht geduldet haben." Auch das Urtheil, welches der Verfasser
über die "Theoretiker und Professoren" fällt, welche den englischen Parla¬
mentarismus nachahmen wollen, ohne England zu kennen und das parla¬
mentarische Material zu besitzen, "ohne welches Parlamente zu schlechten Ko¬
mödien werden", können wir gern gelten lassen. -- Es sind aber nichtsdesto¬
weniger sehr getheilte Empfindungen, in denen wir der Lectüre dieser Schrift
gefolgt sind. Mit der Befriedigung darüber, daß ein hervorragendes Mitglied
des hannöverischen Adels einer gesunderen Beurtheilung unserer Verhältnisse
das Wort redet, geht die Ueberzeugung Hand in Hand, daß wir zu lange in
dem Elend kleiner Verhältnisse gesteckt haben, als daß uns die Aussicht ge¬
blieben wäre, von denen, die sich in solchem Kleinleben am behaglichsten bewegt
haben, in die große Zukunft geführt zu werden, welche dem Vaterlande be¬
vorsteht. Nicht mit dem Grafen Münster, der auf eine historisch-wissenschaftliche
Bedeutung der vorliegenden Schrift von Hause aus anspruchslos Verzicht ge-


mehr dazu befähigt waren, die Dinge von einem großen, wahrhaft politi¬
schen Standpunkt zu übersehen.

Das halbe Jahrhundert, welches zwischen damals und heute liegt, hat
mit den ungeheuren Umwälzungen, welche es brachte, auch an den An¬
schauungen der deutschen Aristokratie vieles geändert. Daß der Inhalt
dieser Anschauungen ein wesentlich anderer ist, oder doch ein anderer sein
kann — davon legen die vier „Skizzen über die Lage Europas", mit welchen
Graf Münster der Sohn die Herausgabe der Hinterlassenschaften seines
Vaters begleitet hat, in erfreulicher Weise Zeugniß ab. Der hannoversche
Erblandmarschall stellt sich mit bewußter Entschiedenheit auf den Boden der
1866 gewordenen Thatsachen, er wirft das hohe Haus Hannover für immer zu
den Todten und läßt „die Todten ihre Todten begraben." Er geht aber noch
einen Schritt weiter — er entzieht sich dem Bekenntniß nicht, daß das Loos
der welfischen Dynastie ein verdientes gewesen sei und nennt die Verblendeten,
welche auf eine mit französischer Hilfe zu ermöglichende Restauration speculiren,
Verräther an der Sache ihrer Nation und ermahnt sie, nicht zu vergessen,
daß sie, wenn auch nicht mehr Hannoveraner, so doch Deutsche geblieben seien.

Auch in Beziehung auf innere Fragen begegnen wir hier und da einer
Gesundheit des Urtheils, von welcher zu wünschen wäre, daß sie die Regel,
nicht die Ausnahme in den Kreisen unsrer grundbesitzenden Familien bilde. Der
Verfasser spricht sich entschieden gegen alle Versuche, den Absolutismus neu zu be¬
leben, aus und hält das Repräsentativstem für nothwendig und historisch be¬
gründet, nachdem die alten ständischen Verfassungen ihren Boden verloren und
an dem Mangel einer Aristokratie zu Grunde gegangen. Mit großer Klarheit
wird dieser Mangel darauf zurückgeführt, „daß die deutschen.Fürsten einen un¬
abhängigen, grundbesitzenden, politisch gebildeten Adel mit unabhängiger Ge¬
sinnung nicht geduldet haben." Auch das Urtheil, welches der Verfasser
über die „Theoretiker und Professoren" fällt, welche den englischen Parla¬
mentarismus nachahmen wollen, ohne England zu kennen und das parla¬
mentarische Material zu besitzen, „ohne welches Parlamente zu schlechten Ko¬
mödien werden", können wir gern gelten lassen. — Es sind aber nichtsdesto¬
weniger sehr getheilte Empfindungen, in denen wir der Lectüre dieser Schrift
gefolgt sind. Mit der Befriedigung darüber, daß ein hervorragendes Mitglied
des hannöverischen Adels einer gesunderen Beurtheilung unserer Verhältnisse
das Wort redet, geht die Ueberzeugung Hand in Hand, daß wir zu lange in
dem Elend kleiner Verhältnisse gesteckt haben, als daß uns die Aussicht ge¬
blieben wäre, von denen, die sich in solchem Kleinleben am behaglichsten bewegt
haben, in die große Zukunft geführt zu werden, welche dem Vaterlande be¬
vorsteht. Nicht mit dem Grafen Münster, der auf eine historisch-wissenschaftliche
Bedeutung der vorliegenden Schrift von Hause aus anspruchslos Verzicht ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/55>, abgerufen am 22.07.2024.