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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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ganz bestimmten Classe, die durch sehr materielle Interessen, nicht durch ideale
Ziele nach oben und nach unten abgegrenzt war. So erhaben er sich über
den Bauern dünkt, -- um von den damals allgemein verfolgten Juden gar
nicht zu reden, -- ebenso feindselig sieht er zu dem durch Reichthum und An¬
sehen hervorragenden Dienstadel auf. Nicht müde wird er, ihre Habsucht zu
schelten, ihre Sparsamkeit zu verspotten.

Dazu kommt endlich noch ein dritter Vorwurf. Vergleicht man die be¬
sprochenen Gedichte mit denen aus der vorangangenen Zeit, aus der ersten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts und den noch früheren, so vermißt man nicht
bloß den jugendlichen Idealismus, der die volkstümlichen Gedichte aus der
Heldensage ebenso sehr durchdringt wie die Ritterromane; sondern es fällt
geradezu eine der formellen Nachlässigkeit entsprechende Derbheit, zuweilen
sogar Roheit auf, die mit Behagen bei niederen Gegenständen verweilt. In
der gegenwärtigen Darstellung sind natürlich die Ausdrücke und Bilder dieser
Art, wo sie angeführt werden mußten, möglichst gemildert; das wenige jedoch,
was davon noch sichtbar geblieben ist, mag einen Schluß auf das weggefal¬
lene gestatten.

Wer nun aber diese Fehler, die nicht geleugnet und nicht entschuldigt
werden sollen, unserem Dichter selbst zur Last legen wollte, der thäte ihm
großes Unrecht. Den größten Theil der Schuld trägt nicht der Dichter, son¬
dern seine Zeit, und es ist vielmehr anzuerkennen, welches Verdienst er sich,
trotz ihrer Einwirkung, noch zu erwerben gewußt hat.

Denn jene Derbheit oder Rohheit ist vom Ende des dreizehnten Jahr¬
hunderts bis weit in die Neuzeit hinein eine fast durchgängige Eigenschaft
der deutschen Literatur. Man erinnere sich, um nur eins anzuführen, der
Fastnachtsspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert! Dagegen sticht denn doch
das, was man an unserm Dichter auszusetzen hat, noch licht ab. Vor allem
aber ist nicht zu vergessen, daß er nicht Gestalten einer lüsternen oder wüsten
Einbildung gibt, sondern stets nach der vollsten Wirklichkeit strebt, daß er
das Leben wie es ist und daher auch seine häßlichen Seiten schildert. Dieser
Realismus muß für das an sich Anstößige entschädigen.

Und ebenso steht es mit dem Vorwurf der Sonderinteressen. Die ganze
Zeit ging in ihnen auf. Gleichgiltig, ja feindselig standen sich Fürstenthum
und Städte, Ritterschaft und Bauern gegenüber. In diesem unaufhörlichen
^gemeinen Wühlen und Kämpfen muß man demjenigen noch am meisten
Beifall geben, der nur das Seine zu erhalten, nicht Fremdes sich anzueignen
sucht. Und diese Gesinnung darf man unsrem Ritter nicht absprechen: der
Raus- und Raublust seiner Zeit ist er mit ehrlicher Entrüstung entgegenge¬
treten. So ist denn auch sein östreichisches Landesgefühl in der Richtung
der Zeit. War Oestreich, waren die Habsburger darauf bedacht, selbst auf


Grmzbvt-n I. 1868. 43

ganz bestimmten Classe, die durch sehr materielle Interessen, nicht durch ideale
Ziele nach oben und nach unten abgegrenzt war. So erhaben er sich über
den Bauern dünkt, — um von den damals allgemein verfolgten Juden gar
nicht zu reden, — ebenso feindselig sieht er zu dem durch Reichthum und An¬
sehen hervorragenden Dienstadel auf. Nicht müde wird er, ihre Habsucht zu
schelten, ihre Sparsamkeit zu verspotten.

Dazu kommt endlich noch ein dritter Vorwurf. Vergleicht man die be¬
sprochenen Gedichte mit denen aus der vorangangenen Zeit, aus der ersten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts und den noch früheren, so vermißt man nicht
bloß den jugendlichen Idealismus, der die volkstümlichen Gedichte aus der
Heldensage ebenso sehr durchdringt wie die Ritterromane; sondern es fällt
geradezu eine der formellen Nachlässigkeit entsprechende Derbheit, zuweilen
sogar Roheit auf, die mit Behagen bei niederen Gegenständen verweilt. In
der gegenwärtigen Darstellung sind natürlich die Ausdrücke und Bilder dieser
Art, wo sie angeführt werden mußten, möglichst gemildert; das wenige jedoch,
was davon noch sichtbar geblieben ist, mag einen Schluß auf das weggefal¬
lene gestatten.

Wer nun aber diese Fehler, die nicht geleugnet und nicht entschuldigt
werden sollen, unserem Dichter selbst zur Last legen wollte, der thäte ihm
großes Unrecht. Den größten Theil der Schuld trägt nicht der Dichter, son¬
dern seine Zeit, und es ist vielmehr anzuerkennen, welches Verdienst er sich,
trotz ihrer Einwirkung, noch zu erwerben gewußt hat.

Denn jene Derbheit oder Rohheit ist vom Ende des dreizehnten Jahr¬
hunderts bis weit in die Neuzeit hinein eine fast durchgängige Eigenschaft
der deutschen Literatur. Man erinnere sich, um nur eins anzuführen, der
Fastnachtsspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert! Dagegen sticht denn doch
das, was man an unserm Dichter auszusetzen hat, noch licht ab. Vor allem
aber ist nicht zu vergessen, daß er nicht Gestalten einer lüsternen oder wüsten
Einbildung gibt, sondern stets nach der vollsten Wirklichkeit strebt, daß er
das Leben wie es ist und daher auch seine häßlichen Seiten schildert. Dieser
Realismus muß für das an sich Anstößige entschädigen.

Und ebenso steht es mit dem Vorwurf der Sonderinteressen. Die ganze
Zeit ging in ihnen auf. Gleichgiltig, ja feindselig standen sich Fürstenthum
und Städte, Ritterschaft und Bauern gegenüber. In diesem unaufhörlichen
^gemeinen Wühlen und Kämpfen muß man demjenigen noch am meisten
Beifall geben, der nur das Seine zu erhalten, nicht Fremdes sich anzueignen
sucht. Und diese Gesinnung darf man unsrem Ritter nicht absprechen: der
Raus- und Raublust seiner Zeit ist er mit ehrlicher Entrüstung entgegenge¬
treten. So ist denn auch sein östreichisches Landesgefühl in der Richtung
der Zeit. War Oestreich, waren die Habsburger darauf bedacht, selbst auf


Grmzbvt-n I. 1868. 43
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[0345] ganz bestimmten Classe, die durch sehr materielle Interessen, nicht durch ideale Ziele nach oben und nach unten abgegrenzt war. So erhaben er sich über den Bauern dünkt, — um von den damals allgemein verfolgten Juden gar nicht zu reden, — ebenso feindselig sieht er zu dem durch Reichthum und An¬ sehen hervorragenden Dienstadel auf. Nicht müde wird er, ihre Habsucht zu schelten, ihre Sparsamkeit zu verspotten. Dazu kommt endlich noch ein dritter Vorwurf. Vergleicht man die be¬ sprochenen Gedichte mit denen aus der vorangangenen Zeit, aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts und den noch früheren, so vermißt man nicht bloß den jugendlichen Idealismus, der die volkstümlichen Gedichte aus der Heldensage ebenso sehr durchdringt wie die Ritterromane; sondern es fällt geradezu eine der formellen Nachlässigkeit entsprechende Derbheit, zuweilen sogar Roheit auf, die mit Behagen bei niederen Gegenständen verweilt. In der gegenwärtigen Darstellung sind natürlich die Ausdrücke und Bilder dieser Art, wo sie angeführt werden mußten, möglichst gemildert; das wenige jedoch, was davon noch sichtbar geblieben ist, mag einen Schluß auf das weggefal¬ lene gestatten. Wer nun aber diese Fehler, die nicht geleugnet und nicht entschuldigt werden sollen, unserem Dichter selbst zur Last legen wollte, der thäte ihm großes Unrecht. Den größten Theil der Schuld trägt nicht der Dichter, son¬ dern seine Zeit, und es ist vielmehr anzuerkennen, welches Verdienst er sich, trotz ihrer Einwirkung, noch zu erwerben gewußt hat. Denn jene Derbheit oder Rohheit ist vom Ende des dreizehnten Jahr¬ hunderts bis weit in die Neuzeit hinein eine fast durchgängige Eigenschaft der deutschen Literatur. Man erinnere sich, um nur eins anzuführen, der Fastnachtsspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert! Dagegen sticht denn doch das, was man an unserm Dichter auszusetzen hat, noch licht ab. Vor allem aber ist nicht zu vergessen, daß er nicht Gestalten einer lüsternen oder wüsten Einbildung gibt, sondern stets nach der vollsten Wirklichkeit strebt, daß er das Leben wie es ist und daher auch seine häßlichen Seiten schildert. Dieser Realismus muß für das an sich Anstößige entschädigen. Und ebenso steht es mit dem Vorwurf der Sonderinteressen. Die ganze Zeit ging in ihnen auf. Gleichgiltig, ja feindselig standen sich Fürstenthum und Städte, Ritterschaft und Bauern gegenüber. In diesem unaufhörlichen ^gemeinen Wühlen und Kämpfen muß man demjenigen noch am meisten Beifall geben, der nur das Seine zu erhalten, nicht Fremdes sich anzueignen sucht. Und diese Gesinnung darf man unsrem Ritter nicht absprechen: der Raus- und Raublust seiner Zeit ist er mit ehrlicher Entrüstung entgegenge¬ treten. So ist denn auch sein östreichisches Landesgefühl in der Richtung der Zeit. War Oestreich, waren die Habsburger darauf bedacht, selbst auf Grmzbvt-n I. 1868. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/345>, abgerufen am 01.07.2024.