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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Im Innern dieser Edelhofe findet sich das Bild jener polnischen Wirthschaft
wieder, welches weltbekannt ist, hie und da durch die ordnende Hand eines
deutschen Jnspectors oder Gutspächters gemildert, der aus dem "Schwedischen"
(so nennt der gemeine Mann das eigentliche Livland häufig noch) herüber¬
gekommen ist, in der Regel um nach einigen Jahren mit seinen Ersparnissen
in die Heimat zurückzukehren. Die altpolnischen Zustände sind in der Auf¬
lösung begriffen, neue haben sich noch nicht gebildet; der Adel ist verarmt
und um alle Autorität gebracht, die Geistlichkeit hat Mühe, sich gegen den
zunehmenden Einfluß der griechischen Propaganda zu wehren und muß schwei¬
gend dulden, daß ihre Klöster geschlossen, ihre Kirchen in Wohnstätten des
orthodoxen Ritus verwandelt werden. Die russischen'Offiziere und die ihnen
zugegebenen Civilbeamten fehen sich als Fremdlinge an, die mit Sehnsucht
den Augenblick abwarten, in welchem sie abgelöst werden --, die wahren
Beherrscher des Landes sind die Juden geworden, in deren Händen sich aller
Handel und alle bewegliche Habe befindet und die nur durch ein Zwangs¬
gesetz verhindert werden, die Güter der ihnen sonst mit Leib und Seele ver¬
pfändeten Gutsbesitzer und Bauern an sich zu nehmen. Nirgend bietet sich
dem Blick des Wandrers ein Bild wirklichen Behagens, nirgend läßt sich
eine bestimmt ausgeprägte Nationalität, die Grundlage einer aufstrebenden
Cultur entdecken; -- polnische, russische, litthauische, lettische und jüdische
Einflüsse verbinden sich zu einem farblosen Chaos, über welches ein System
neu ausgesonnener gouvernementäler Reglementirungen vergeblich die ver¬
hüllende Decke zu werfen, bestrebt ist. Jeder, den Geschäfte oder amtliche
Pflichten in diesen verkommenen Winkel geführt haben, ist froh, wenn er
den Staub, oder richtiger gesagt, den Koth der infländischen Erde von seinen
Füßen schüttelt und den Dünaburger Bahnhof erreicht, von dem aus der
Weg in die Culturwelt zurückführt, freilich nur, wenn der Reisende sich
den zahlreichen Gensdarmen und Kosaken, die säbelklirrend auf dem Pc
auf- und niederschreiten, als politisch ungefährlich und gehörig "verpaßt"
legitimiren kann. -- Dünaburg selbst, der von angeblich 27,000 Menschen
bewohnte Hauptort des Landes, verdient den Namen einer Stadt nur be¬
dingungsweise. Vergeblich sieht sich der Reisende, der von Riga mit der
Eisenbahn angelangt und durch den Ruf "Din^burch" aus dem Schlummer
geweckt worden ist, in den ihn die melancholische Landschaft eingewiegt hatte,
-- nach gepflasterten Straßen, bürgerlich wohnlichen Gebäuden und den übrigen
Merkmalen städtischer Gesittung um; vor ihm liegt in tiefem Flugsand ver¬
graben eine regellos aneinander gekettete Masse elender strohbedeckter Holz¬
hütten, aus denen triefäugige Juden und schnapsgeröthete Soldaten neugie¬
rig heraussehen, nur mühsam entdeckt das Auge in mehliger Ferne die Thürme
und Kuppeln der Citadelle, welche verächtlich auf das unter ihr liegende


Grenzboten I. 1868- 37

Im Innern dieser Edelhofe findet sich das Bild jener polnischen Wirthschaft
wieder, welches weltbekannt ist, hie und da durch die ordnende Hand eines
deutschen Jnspectors oder Gutspächters gemildert, der aus dem „Schwedischen"
(so nennt der gemeine Mann das eigentliche Livland häufig noch) herüber¬
gekommen ist, in der Regel um nach einigen Jahren mit seinen Ersparnissen
in die Heimat zurückzukehren. Die altpolnischen Zustände sind in der Auf¬
lösung begriffen, neue haben sich noch nicht gebildet; der Adel ist verarmt
und um alle Autorität gebracht, die Geistlichkeit hat Mühe, sich gegen den
zunehmenden Einfluß der griechischen Propaganda zu wehren und muß schwei¬
gend dulden, daß ihre Klöster geschlossen, ihre Kirchen in Wohnstätten des
orthodoxen Ritus verwandelt werden. Die russischen'Offiziere und die ihnen
zugegebenen Civilbeamten fehen sich als Fremdlinge an, die mit Sehnsucht
den Augenblick abwarten, in welchem sie abgelöst werden —, die wahren
Beherrscher des Landes sind die Juden geworden, in deren Händen sich aller
Handel und alle bewegliche Habe befindet und die nur durch ein Zwangs¬
gesetz verhindert werden, die Güter der ihnen sonst mit Leib und Seele ver¬
pfändeten Gutsbesitzer und Bauern an sich zu nehmen. Nirgend bietet sich
dem Blick des Wandrers ein Bild wirklichen Behagens, nirgend läßt sich
eine bestimmt ausgeprägte Nationalität, die Grundlage einer aufstrebenden
Cultur entdecken; — polnische, russische, litthauische, lettische und jüdische
Einflüsse verbinden sich zu einem farblosen Chaos, über welches ein System
neu ausgesonnener gouvernementäler Reglementirungen vergeblich die ver¬
hüllende Decke zu werfen, bestrebt ist. Jeder, den Geschäfte oder amtliche
Pflichten in diesen verkommenen Winkel geführt haben, ist froh, wenn er
den Staub, oder richtiger gesagt, den Koth der infländischen Erde von seinen
Füßen schüttelt und den Dünaburger Bahnhof erreicht, von dem aus der
Weg in die Culturwelt zurückführt, freilich nur, wenn der Reisende sich
den zahlreichen Gensdarmen und Kosaken, die säbelklirrend auf dem Pc
auf- und niederschreiten, als politisch ungefährlich und gehörig „verpaßt"
legitimiren kann. — Dünaburg selbst, der von angeblich 27,000 Menschen
bewohnte Hauptort des Landes, verdient den Namen einer Stadt nur be¬
dingungsweise. Vergeblich sieht sich der Reisende, der von Riga mit der
Eisenbahn angelangt und durch den Ruf „Din^burch" aus dem Schlummer
geweckt worden ist, in den ihn die melancholische Landschaft eingewiegt hatte,
— nach gepflasterten Straßen, bürgerlich wohnlichen Gebäuden und den übrigen
Merkmalen städtischer Gesittung um; vor ihm liegt in tiefem Flugsand ver¬
graben eine regellos aneinander gekettete Masse elender strohbedeckter Holz¬
hütten, aus denen triefäugige Juden und schnapsgeröthete Soldaten neugie¬
rig heraussehen, nur mühsam entdeckt das Auge in mehliger Ferne die Thürme
und Kuppeln der Citadelle, welche verächtlich auf das unter ihr liegende


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[0297] Im Innern dieser Edelhofe findet sich das Bild jener polnischen Wirthschaft wieder, welches weltbekannt ist, hie und da durch die ordnende Hand eines deutschen Jnspectors oder Gutspächters gemildert, der aus dem „Schwedischen" (so nennt der gemeine Mann das eigentliche Livland häufig noch) herüber¬ gekommen ist, in der Regel um nach einigen Jahren mit seinen Ersparnissen in die Heimat zurückzukehren. Die altpolnischen Zustände sind in der Auf¬ lösung begriffen, neue haben sich noch nicht gebildet; der Adel ist verarmt und um alle Autorität gebracht, die Geistlichkeit hat Mühe, sich gegen den zunehmenden Einfluß der griechischen Propaganda zu wehren und muß schwei¬ gend dulden, daß ihre Klöster geschlossen, ihre Kirchen in Wohnstätten des orthodoxen Ritus verwandelt werden. Die russischen'Offiziere und die ihnen zugegebenen Civilbeamten fehen sich als Fremdlinge an, die mit Sehnsucht den Augenblick abwarten, in welchem sie abgelöst werden —, die wahren Beherrscher des Landes sind die Juden geworden, in deren Händen sich aller Handel und alle bewegliche Habe befindet und die nur durch ein Zwangs¬ gesetz verhindert werden, die Güter der ihnen sonst mit Leib und Seele ver¬ pfändeten Gutsbesitzer und Bauern an sich zu nehmen. Nirgend bietet sich dem Blick des Wandrers ein Bild wirklichen Behagens, nirgend läßt sich eine bestimmt ausgeprägte Nationalität, die Grundlage einer aufstrebenden Cultur entdecken; — polnische, russische, litthauische, lettische und jüdische Einflüsse verbinden sich zu einem farblosen Chaos, über welches ein System neu ausgesonnener gouvernementäler Reglementirungen vergeblich die ver¬ hüllende Decke zu werfen, bestrebt ist. Jeder, den Geschäfte oder amtliche Pflichten in diesen verkommenen Winkel geführt haben, ist froh, wenn er den Staub, oder richtiger gesagt, den Koth der infländischen Erde von seinen Füßen schüttelt und den Dünaburger Bahnhof erreicht, von dem aus der Weg in die Culturwelt zurückführt, freilich nur, wenn der Reisende sich den zahlreichen Gensdarmen und Kosaken, die säbelklirrend auf dem Pc auf- und niederschreiten, als politisch ungefährlich und gehörig „verpaßt" legitimiren kann. — Dünaburg selbst, der von angeblich 27,000 Menschen bewohnte Hauptort des Landes, verdient den Namen einer Stadt nur be¬ dingungsweise. Vergeblich sieht sich der Reisende, der von Riga mit der Eisenbahn angelangt und durch den Ruf „Din^burch" aus dem Schlummer geweckt worden ist, in den ihn die melancholische Landschaft eingewiegt hatte, — nach gepflasterten Straßen, bürgerlich wohnlichen Gebäuden und den übrigen Merkmalen städtischer Gesittung um; vor ihm liegt in tiefem Flugsand ver¬ graben eine regellos aneinander gekettete Masse elender strohbedeckter Holz¬ hütten, aus denen triefäugige Juden und schnapsgeröthete Soldaten neugie¬ rig heraussehen, nur mühsam entdeckt das Auge in mehliger Ferne die Thürme und Kuppeln der Citadelle, welche verächtlich auf das unter ihr liegende Grenzboten I. 1868- 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/297>, abgerufen am 02.10.2024.