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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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gebrochenen Bahnen immer von neuem breit zu treten. Er ist z. B., soviel
Referent weiß, der erste, der die höchst unerfreuliche und wenig dankbare
aber unerläßliche Arbeit über sich genommen hat, die sämmtlichen Schriften
des Arztes Galenus nur zu dem Zwecke durchzuarbeiten, um die hie und da
eingestreuten Notizen, die sich auf das antike Privatleben beziehen, zu sammeln
und zu verwerthen. Die Lecture dieses unendlich redseligen Schriftstellers,
dessen Werke in der neuesten Ausgabe zwanzig dicke Bände füllen, können
selbst Mediziner zur Verzweiflung bringen; um so größere Resignation ist
für den Philologen und Alterthumsforscher erforderlich, dem der Inhalt meist
gleichgültig oder unverständlich ist. Für die Aufspürung interessanter Thatsachen
auf den entlegensten Gebieten der Literatur ist dem Verfasser übrigens die
reiche Bibliothek in Gotha sehr zu statten gekommen, die ihm auch die Be¬
nutzung mancher werthvollen im Auslande erschienenen Werke möglich ge¬
macht hat, deren Kenntniß in Deutschland noch wenig verbreitet ist; denn
trotz der riesenhaften Zunahme des internationalen Verkehrs, ist der von
Göthe gehegte Gedanke "der Weltliteratur" wenigstens auf dem Gebiet der
Alterthumsforschung feiner Verwirklichung noch viel ferner, als man erwarten
sollte. Noch immer dauert es oft übermäßig lange, ehe ein in England oder
Frankreich erschienenes gutes Buch in Deutschland die gebührende Verbrei¬
tung findet. Nicht minder begünstigt ist der Verfasser durch die monumentalen
Schätze der gothaischen Sammlungen und mit nicht geringerem Erfolg hat
er auch sie für seine Zwecke verwerthet. Dies führt uns auf einen andern
Vorzug seines Buchs.

Ein Hauptfortschritt der Alterthumswissenschaft beruht auf ihrem Stre¬
ben, soviel als möglich Anschauungen des antiken Lebens zu gewinnen, ein
Streben, das mit dem gewaltigen Aufschwung der Monumentalforschung im
engsten Zusammenhange steht, überdies durch die so sehr viel leichter ge¬
wordene Autopsie des classischen Bodens wesentlich unterstützt wird. Gegen¬
wärtig lernen schon die Schüler der Gymnasien das Forum und die Akro-
Polis aus Karten und Plänen, antike Bauten, Waffen, Trachten, Geräthe
aus Abbildungen kennen: die Zeit liegt noch nicht weit hinter uns, wo
selbst große Philologen von diesen Dingen zum Theil nur sehr unklare
Vorstellungen hatten. Viele der jetzigen Generation haben noch jene Schul¬
männer gekannt. die, in ihr Museum gebannt, die Welt kaum einen Feier¬
tag sahn, die mit Recht den Respect ihrer Schüler besaßen, obgleich sie
zuweilen deren stille Heiterkeit erregten, wenn sie bei ihren Vorträgen
sich über den Bereich ihrer Studierstube hinauswagten. Selten werden wohl
jetzt noch solche Bemerkungen bei der Interpretation alter Schriftsteller ver¬
nommen, wie z. B. die eines Lehrers, der zur Erklärung des Ausdrucks
im Sophokles "geschwungene Zügel" seinen Schülern mittheilte, er habe


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gebrochenen Bahnen immer von neuem breit zu treten. Er ist z. B., soviel
Referent weiß, der erste, der die höchst unerfreuliche und wenig dankbare
aber unerläßliche Arbeit über sich genommen hat, die sämmtlichen Schriften
des Arztes Galenus nur zu dem Zwecke durchzuarbeiten, um die hie und da
eingestreuten Notizen, die sich auf das antike Privatleben beziehen, zu sammeln
und zu verwerthen. Die Lecture dieses unendlich redseligen Schriftstellers,
dessen Werke in der neuesten Ausgabe zwanzig dicke Bände füllen, können
selbst Mediziner zur Verzweiflung bringen; um so größere Resignation ist
für den Philologen und Alterthumsforscher erforderlich, dem der Inhalt meist
gleichgültig oder unverständlich ist. Für die Aufspürung interessanter Thatsachen
auf den entlegensten Gebieten der Literatur ist dem Verfasser übrigens die
reiche Bibliothek in Gotha sehr zu statten gekommen, die ihm auch die Be¬
nutzung mancher werthvollen im Auslande erschienenen Werke möglich ge¬
macht hat, deren Kenntniß in Deutschland noch wenig verbreitet ist; denn
trotz der riesenhaften Zunahme des internationalen Verkehrs, ist der von
Göthe gehegte Gedanke „der Weltliteratur" wenigstens auf dem Gebiet der
Alterthumsforschung feiner Verwirklichung noch viel ferner, als man erwarten
sollte. Noch immer dauert es oft übermäßig lange, ehe ein in England oder
Frankreich erschienenes gutes Buch in Deutschland die gebührende Verbrei¬
tung findet. Nicht minder begünstigt ist der Verfasser durch die monumentalen
Schätze der gothaischen Sammlungen und mit nicht geringerem Erfolg hat
er auch sie für seine Zwecke verwerthet. Dies führt uns auf einen andern
Vorzug seines Buchs.

Ein Hauptfortschritt der Alterthumswissenschaft beruht auf ihrem Stre¬
ben, soviel als möglich Anschauungen des antiken Lebens zu gewinnen, ein
Streben, das mit dem gewaltigen Aufschwung der Monumentalforschung im
engsten Zusammenhange steht, überdies durch die so sehr viel leichter ge¬
wordene Autopsie des classischen Bodens wesentlich unterstützt wird. Gegen¬
wärtig lernen schon die Schüler der Gymnasien das Forum und die Akro-
Polis aus Karten und Plänen, antike Bauten, Waffen, Trachten, Geräthe
aus Abbildungen kennen: die Zeit liegt noch nicht weit hinter uns, wo
selbst große Philologen von diesen Dingen zum Theil nur sehr unklare
Vorstellungen hatten. Viele der jetzigen Generation haben noch jene Schul¬
männer gekannt. die, in ihr Museum gebannt, die Welt kaum einen Feier¬
tag sahn, die mit Recht den Respect ihrer Schüler besaßen, obgleich sie
zuweilen deren stille Heiterkeit erregten, wenn sie bei ihren Vorträgen
sich über den Bereich ihrer Studierstube hinauswagten. Selten werden wohl
jetzt noch solche Bemerkungen bei der Interpretation alter Schriftsteller ver¬
nommen, wie z. B. die eines Lehrers, der zur Erklärung des Ausdrucks
im Sophokles „geschwungene Zügel" seinen Schülern mittheilte, er habe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/211>, abgerufen am 22.07.2024.