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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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Und doch hat auch diese Stellung der Südstaaten wieder ihre ehrenvolle
Seite. Es ist wahr, wir sollen eintreten in ein Haus, an dem wir nicht
angebaut, wir sollen nachkommen, wohin uns die Anderen vorausgegangen
sind. Allein das Kommen ist in die Freiheit unseres Entschlusses gelegt.
Von uns erwartet man, daß wir dem Ganzen uns anschließen mit gereifter
Erkenntniß, mit eigener Ueberwindung des Sonderwillens; Tugenden, die den
anderen doch wesentlich erleichtert worden sind durch den mehr oder weniger
sanften Zwang der Ereignisse. Auch in anderen Provinzen, wenn man das
Reifen der nationalen Gesinnung hätte abwarten wollen, hätten sich ähnliche
Kämpfe entwickeln müssen, wie sie jetzt uns vorbehalten sind. Die anderen
hatten keine Wahl, uns bleibt die Wahl und die Qual. Aett wenn in diesen
Wochen der Blick der Deutschen mit Spannung auf dieser südwestlichen Ecke
des Vaterlandes ruht, so geschieht dies weniger wegen der unmittelbar poli¬
tischen Wichtigkeit dessen, was hier vorgeht, als vielmehr deswegen, weil der
Süden jetzt das anziehende Schauspiel bietet, wie, ohne durch äußeren Zwang
gefördert und beschleunigt zu werden, je nach der Kraft des inneren Triebes
enges und altgewöhntes Provinzialleben sich ausschließt zum Nationalleben.
Dieser Prozeß ist überall im Gang, er ist nördlich vom Main nahezu ent¬
schieden: seine naturgemäße sreie Entwickelung wird allein von uns verlangt.
Wie wir die Probe bestehen, das haben wir zunächst an den Zollparlaments¬
wahlen zu zeigen.

Diese Wahlen sind im Grund die erste Gelegenheit für unsere Provinz,
sich mit dem nationalen Leben in Berührung zu setzen, die erste offizielle An¬
frage an ihre deutsche Gesinnung. 1848 war eine Episode, ein Rausch, und
hat die üblichen Folgen eines Rausches gehabt. Seither hatte sich Schwaben
um so hartnäckiger auf sich selbst zurückgezogen, mißtrauisch und zurückhaltend
war es den nationalen Bestrebungen gefolgt, am liebsten hatte es den kriti¬
schen Zuschauer gespielt und inzwischen Thüren und Fenster sorgfältig ver¬
stopft. Jetzt hat der brausende Frühlingssturm Thüren und Fenster aufge¬
rissen, in den Wänden beginnt es ungemüthlich zu werden, und während die
einen mit begreiflichen Behagen die neue frische Luft einathmen, stehen die
anderen zögernd an der Schwelle und werfen wehmüthige Blicke auf das
bisher so heimliche Plätzchen am Ofen, indeß die dritten trotzig im Winkel
kauern, entschlossen, die Löcher nochmals gegen den Frühlingswind zu ver¬
stopfen.

Was die Parlamentswahlen für unser Land bedeuten, hat die Volks¬
partei mit richtigem Instinkt begriffen. Daher ihr verzweifelter Entschluß,
sie zu ignoriren. Sie hat allen Grund, für sich wenigstens jede Berührung
mit dem neuen Geist zu scheuen. Es kommen noch andere Gründe hinzu:
sie ist sich ihrer numerischen Schwäche, der Schwierigkeit, eigene Candidaten


Grenzl'oder I. 18"8- 25

Und doch hat auch diese Stellung der Südstaaten wieder ihre ehrenvolle
Seite. Es ist wahr, wir sollen eintreten in ein Haus, an dem wir nicht
angebaut, wir sollen nachkommen, wohin uns die Anderen vorausgegangen
sind. Allein das Kommen ist in die Freiheit unseres Entschlusses gelegt.
Von uns erwartet man, daß wir dem Ganzen uns anschließen mit gereifter
Erkenntniß, mit eigener Ueberwindung des Sonderwillens; Tugenden, die den
anderen doch wesentlich erleichtert worden sind durch den mehr oder weniger
sanften Zwang der Ereignisse. Auch in anderen Provinzen, wenn man das
Reifen der nationalen Gesinnung hätte abwarten wollen, hätten sich ähnliche
Kämpfe entwickeln müssen, wie sie jetzt uns vorbehalten sind. Die anderen
hatten keine Wahl, uns bleibt die Wahl und die Qual. Aett wenn in diesen
Wochen der Blick der Deutschen mit Spannung auf dieser südwestlichen Ecke
des Vaterlandes ruht, so geschieht dies weniger wegen der unmittelbar poli¬
tischen Wichtigkeit dessen, was hier vorgeht, als vielmehr deswegen, weil der
Süden jetzt das anziehende Schauspiel bietet, wie, ohne durch äußeren Zwang
gefördert und beschleunigt zu werden, je nach der Kraft des inneren Triebes
enges und altgewöhntes Provinzialleben sich ausschließt zum Nationalleben.
Dieser Prozeß ist überall im Gang, er ist nördlich vom Main nahezu ent¬
schieden: seine naturgemäße sreie Entwickelung wird allein von uns verlangt.
Wie wir die Probe bestehen, das haben wir zunächst an den Zollparlaments¬
wahlen zu zeigen.

Diese Wahlen sind im Grund die erste Gelegenheit für unsere Provinz,
sich mit dem nationalen Leben in Berührung zu setzen, die erste offizielle An¬
frage an ihre deutsche Gesinnung. 1848 war eine Episode, ein Rausch, und
hat die üblichen Folgen eines Rausches gehabt. Seither hatte sich Schwaben
um so hartnäckiger auf sich selbst zurückgezogen, mißtrauisch und zurückhaltend
war es den nationalen Bestrebungen gefolgt, am liebsten hatte es den kriti¬
schen Zuschauer gespielt und inzwischen Thüren und Fenster sorgfältig ver¬
stopft. Jetzt hat der brausende Frühlingssturm Thüren und Fenster aufge¬
rissen, in den Wänden beginnt es ungemüthlich zu werden, und während die
einen mit begreiflichen Behagen die neue frische Luft einathmen, stehen die
anderen zögernd an der Schwelle und werfen wehmüthige Blicke auf das
bisher so heimliche Plätzchen am Ofen, indeß die dritten trotzig im Winkel
kauern, entschlossen, die Löcher nochmals gegen den Frühlingswind zu ver¬
stopfen.

Was die Parlamentswahlen für unser Land bedeuten, hat die Volks¬
partei mit richtigem Instinkt begriffen. Daher ihr verzweifelter Entschluß,
sie zu ignoriren. Sie hat allen Grund, für sich wenigstens jede Berührung
mit dem neuen Geist zu scheuen. Es kommen noch andere Gründe hinzu:
sie ist sich ihrer numerischen Schwäche, der Schwierigkeit, eigene Candidaten


Grenzl'oder I. 18«8- 25
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[0201] Und doch hat auch diese Stellung der Südstaaten wieder ihre ehrenvolle Seite. Es ist wahr, wir sollen eintreten in ein Haus, an dem wir nicht angebaut, wir sollen nachkommen, wohin uns die Anderen vorausgegangen sind. Allein das Kommen ist in die Freiheit unseres Entschlusses gelegt. Von uns erwartet man, daß wir dem Ganzen uns anschließen mit gereifter Erkenntniß, mit eigener Ueberwindung des Sonderwillens; Tugenden, die den anderen doch wesentlich erleichtert worden sind durch den mehr oder weniger sanften Zwang der Ereignisse. Auch in anderen Provinzen, wenn man das Reifen der nationalen Gesinnung hätte abwarten wollen, hätten sich ähnliche Kämpfe entwickeln müssen, wie sie jetzt uns vorbehalten sind. Die anderen hatten keine Wahl, uns bleibt die Wahl und die Qual. Aett wenn in diesen Wochen der Blick der Deutschen mit Spannung auf dieser südwestlichen Ecke des Vaterlandes ruht, so geschieht dies weniger wegen der unmittelbar poli¬ tischen Wichtigkeit dessen, was hier vorgeht, als vielmehr deswegen, weil der Süden jetzt das anziehende Schauspiel bietet, wie, ohne durch äußeren Zwang gefördert und beschleunigt zu werden, je nach der Kraft des inneren Triebes enges und altgewöhntes Provinzialleben sich ausschließt zum Nationalleben. Dieser Prozeß ist überall im Gang, er ist nördlich vom Main nahezu ent¬ schieden: seine naturgemäße sreie Entwickelung wird allein von uns verlangt. Wie wir die Probe bestehen, das haben wir zunächst an den Zollparlaments¬ wahlen zu zeigen. Diese Wahlen sind im Grund die erste Gelegenheit für unsere Provinz, sich mit dem nationalen Leben in Berührung zu setzen, die erste offizielle An¬ frage an ihre deutsche Gesinnung. 1848 war eine Episode, ein Rausch, und hat die üblichen Folgen eines Rausches gehabt. Seither hatte sich Schwaben um so hartnäckiger auf sich selbst zurückgezogen, mißtrauisch und zurückhaltend war es den nationalen Bestrebungen gefolgt, am liebsten hatte es den kriti¬ schen Zuschauer gespielt und inzwischen Thüren und Fenster sorgfältig ver¬ stopft. Jetzt hat der brausende Frühlingssturm Thüren und Fenster aufge¬ rissen, in den Wänden beginnt es ungemüthlich zu werden, und während die einen mit begreiflichen Behagen die neue frische Luft einathmen, stehen die anderen zögernd an der Schwelle und werfen wehmüthige Blicke auf das bisher so heimliche Plätzchen am Ofen, indeß die dritten trotzig im Winkel kauern, entschlossen, die Löcher nochmals gegen den Frühlingswind zu ver¬ stopfen. Was die Parlamentswahlen für unser Land bedeuten, hat die Volks¬ partei mit richtigem Instinkt begriffen. Daher ihr verzweifelter Entschluß, sie zu ignoriren. Sie hat allen Grund, für sich wenigstens jede Berührung mit dem neuen Geist zu scheuen. Es kommen noch andere Gründe hinzu: sie ist sich ihrer numerischen Schwäche, der Schwierigkeit, eigene Candidaten Grenzl'oder I. 18«8- 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/201>, abgerufen am 03.07.2024.