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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

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auf dem kirchlichen Gebiete thätig. Hatte er früher hier wahrhaft revolutio¬
när gewirthschaftet und die Kirche Niederhessens zu einer lutherischen erklärt,
die nur reformirt genannt werde, so war jetzt seine Sorge darauf gerichtet,
allen Veränderungen, die etwa die neue Regierung intendiren könnte, mit
Hilfe seiner unbedingten Anhänger von vornherein Schwierigkeiten zu berei¬
ten. In einer unlängst erschienenen Broschüre über die Vergangenheit und
Gegenwart der niederhessischen Kirche hat er, eingedenk des von ihm selbst
iHessenzeitung, 24- Juni 1865) einmal hervorgehobenen Satzes: "Wer die
Gegenwart irre leiten will, muß die Vergangenheit verfälschen", wieder be¬
hauptet, die reformirte Kirche Niederhessens sei in der Abendmahlslehre ze.
lutherisch und der Geistlichkeit der Widerstand gegen alle Tendenzen der
neuen Negierung auf Einführung einer synodalen Verfassung zur Pflicht
gemacht. Jetzt erstrebt er offenbar wieder die Trennung der Kirche vom
Staat, wie im Jahre 1848, nachdem er so lange, als seine Partei in Cassel
am Ruder war, hiervon geschwiegen hatte; jetzt ist das Territorialsystem, das
sür Hessen den Segen gehabt hat, daß die Kirche niemals vollständig die Beute
streitsüchtiger Theologen geworden ist, vom Uebel. -- Und was geschieht nun
von Berlin aus, um diesen Bestrebungen entgegenzutreten? Seine Majestät der
König hat bei seiner Anwesenheit im Lande wiederholt erklärt, man denke
nicht daran, Hessen die Union mit Gewalt oder Ueberredung aufnöthigen zu
wollen, er selber halte an ihr fest als an einem theuern Vermächtniß seines
Vaters, das gewiß auch immer mehr Anerkennung finden werde. Damit
hätte man sich befriedigt erklären können. Aber in einem Lande, wo nach
solchen königlichen Worten das Blatt, welches sich sonst stets seiner königs¬
treuen Gesinnung rühmt, schreiben kann': Man pflegt außerhalb die evan¬
gelische Landeskirche Preußens wohl kurzweg als die "unirte Kirche" zu be¬
zeichnen, was jeder, der die Dinge genauer kennt und unbefangen beurtheilt,
für grundfalsch erklären muß (Kreuzzeitung, 11. Sept. 1867), müssen wohl
die Dinge so liegen, daß Leute, deren Bestrebungen in einer gewissen Richtung
sich bewegen, hoffen dürfen, da Bundesgenossen zu finden, wo sie dieselben
unter andern Umständen nicht erwarten dürften. Und sie haben sich nicht
geirrt. Während in Kurhessen fast alle inneren Einrichtungen verändert
worden sind, hat man die frühere Ordnung aller oxterna der Kirche bis in
das Kleinste fortbestehen lassen. Statt des einen Consistoriums in Cassel. das
anfänglich intendirt war, beläßt man dieselben in Cassel, Marburg und
Hanau, obwohl dieselben schon längst aus Lutheranern und Reformirten
zusammengesetzt waren und die Zusammenlegung derselben auch nicht den
geringsten Vorwand zu Klagen über Einführung der Union hätte geben
können. Die Antworten, welche auf Anfrage des Cultusministeriums die
Consistorien über Einführung der rheinisch-westfälischen Synodalverfassung


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auf dem kirchlichen Gebiete thätig. Hatte er früher hier wahrhaft revolutio¬
när gewirthschaftet und die Kirche Niederhessens zu einer lutherischen erklärt,
die nur reformirt genannt werde, so war jetzt seine Sorge darauf gerichtet,
allen Veränderungen, die etwa die neue Regierung intendiren könnte, mit
Hilfe seiner unbedingten Anhänger von vornherein Schwierigkeiten zu berei¬
ten. In einer unlängst erschienenen Broschüre über die Vergangenheit und
Gegenwart der niederhessischen Kirche hat er, eingedenk des von ihm selbst
iHessenzeitung, 24- Juni 1865) einmal hervorgehobenen Satzes: „Wer die
Gegenwart irre leiten will, muß die Vergangenheit verfälschen", wieder be¬
hauptet, die reformirte Kirche Niederhessens sei in der Abendmahlslehre ze.
lutherisch und der Geistlichkeit der Widerstand gegen alle Tendenzen der
neuen Negierung auf Einführung einer synodalen Verfassung zur Pflicht
gemacht. Jetzt erstrebt er offenbar wieder die Trennung der Kirche vom
Staat, wie im Jahre 1848, nachdem er so lange, als seine Partei in Cassel
am Ruder war, hiervon geschwiegen hatte; jetzt ist das Territorialsystem, das
sür Hessen den Segen gehabt hat, daß die Kirche niemals vollständig die Beute
streitsüchtiger Theologen geworden ist, vom Uebel. — Und was geschieht nun
von Berlin aus, um diesen Bestrebungen entgegenzutreten? Seine Majestät der
König hat bei seiner Anwesenheit im Lande wiederholt erklärt, man denke
nicht daran, Hessen die Union mit Gewalt oder Ueberredung aufnöthigen zu
wollen, er selber halte an ihr fest als an einem theuern Vermächtniß seines
Vaters, das gewiß auch immer mehr Anerkennung finden werde. Damit
hätte man sich befriedigt erklären können. Aber in einem Lande, wo nach
solchen königlichen Worten das Blatt, welches sich sonst stets seiner königs¬
treuen Gesinnung rühmt, schreiben kann': Man pflegt außerhalb die evan¬
gelische Landeskirche Preußens wohl kurzweg als die „unirte Kirche" zu be¬
zeichnen, was jeder, der die Dinge genauer kennt und unbefangen beurtheilt,
für grundfalsch erklären muß (Kreuzzeitung, 11. Sept. 1867), müssen wohl
die Dinge so liegen, daß Leute, deren Bestrebungen in einer gewissen Richtung
sich bewegen, hoffen dürfen, da Bundesgenossen zu finden, wo sie dieselben
unter andern Umständen nicht erwarten dürften. Und sie haben sich nicht
geirrt. Während in Kurhessen fast alle inneren Einrichtungen verändert
worden sind, hat man die frühere Ordnung aller oxterna der Kirche bis in
das Kleinste fortbestehen lassen. Statt des einen Consistoriums in Cassel. das
anfänglich intendirt war, beläßt man dieselben in Cassel, Marburg und
Hanau, obwohl dieselben schon längst aus Lutheranern und Reformirten
zusammengesetzt waren und die Zusammenlegung derselben auch nicht den
geringsten Vorwand zu Klagen über Einführung der Union hätte geben
können. Die Antworten, welche auf Anfrage des Cultusministeriums die
Consistorien über Einführung der rheinisch-westfälischen Synodalverfassung


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[0163] auf dem kirchlichen Gebiete thätig. Hatte er früher hier wahrhaft revolutio¬ när gewirthschaftet und die Kirche Niederhessens zu einer lutherischen erklärt, die nur reformirt genannt werde, so war jetzt seine Sorge darauf gerichtet, allen Veränderungen, die etwa die neue Regierung intendiren könnte, mit Hilfe seiner unbedingten Anhänger von vornherein Schwierigkeiten zu berei¬ ten. In einer unlängst erschienenen Broschüre über die Vergangenheit und Gegenwart der niederhessischen Kirche hat er, eingedenk des von ihm selbst iHessenzeitung, 24- Juni 1865) einmal hervorgehobenen Satzes: „Wer die Gegenwart irre leiten will, muß die Vergangenheit verfälschen", wieder be¬ hauptet, die reformirte Kirche Niederhessens sei in der Abendmahlslehre ze. lutherisch und der Geistlichkeit der Widerstand gegen alle Tendenzen der neuen Negierung auf Einführung einer synodalen Verfassung zur Pflicht gemacht. Jetzt erstrebt er offenbar wieder die Trennung der Kirche vom Staat, wie im Jahre 1848, nachdem er so lange, als seine Partei in Cassel am Ruder war, hiervon geschwiegen hatte; jetzt ist das Territorialsystem, das sür Hessen den Segen gehabt hat, daß die Kirche niemals vollständig die Beute streitsüchtiger Theologen geworden ist, vom Uebel. — Und was geschieht nun von Berlin aus, um diesen Bestrebungen entgegenzutreten? Seine Majestät der König hat bei seiner Anwesenheit im Lande wiederholt erklärt, man denke nicht daran, Hessen die Union mit Gewalt oder Ueberredung aufnöthigen zu wollen, er selber halte an ihr fest als an einem theuern Vermächtniß seines Vaters, das gewiß auch immer mehr Anerkennung finden werde. Damit hätte man sich befriedigt erklären können. Aber in einem Lande, wo nach solchen königlichen Worten das Blatt, welches sich sonst stets seiner königs¬ treuen Gesinnung rühmt, schreiben kann': Man pflegt außerhalb die evan¬ gelische Landeskirche Preußens wohl kurzweg als die „unirte Kirche" zu be¬ zeichnen, was jeder, der die Dinge genauer kennt und unbefangen beurtheilt, für grundfalsch erklären muß (Kreuzzeitung, 11. Sept. 1867), müssen wohl die Dinge so liegen, daß Leute, deren Bestrebungen in einer gewissen Richtung sich bewegen, hoffen dürfen, da Bundesgenossen zu finden, wo sie dieselben unter andern Umständen nicht erwarten dürften. Und sie haben sich nicht geirrt. Während in Kurhessen fast alle inneren Einrichtungen verändert worden sind, hat man die frühere Ordnung aller oxterna der Kirche bis in das Kleinste fortbestehen lassen. Statt des einen Consistoriums in Cassel. das anfänglich intendirt war, beläßt man dieselben in Cassel, Marburg und Hanau, obwohl dieselben schon längst aus Lutheranern und Reformirten zusammengesetzt waren und die Zusammenlegung derselben auch nicht den geringsten Vorwand zu Klagen über Einführung der Union hätte geben können. Die Antworten, welche auf Anfrage des Cultusministeriums die Consistorien über Einführung der rheinisch-westfälischen Synodalverfassung 20"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/163>, abgerufen am 05.02.2025.