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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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feire außerhalb des ungarischen Reiches nicht, ihre politische Bedeutung ist
größer als die materielle Grundlage, ihr Streben ist nicht darauf gerichtet, daß
im nationalen Sinne verbundene, politisch getrennte Länder fester geeinigt
werden, sondern daß ihre Herrschaft in dem von mehren Stämmen bewohnten
Reiche erhalten bleibe. Gerade diese Herrschaft wurde aber durch den Ueber¬
gang vom Mittelalter in das moderne Leben, das nur einfache Majoritätsrechte
kennt, einer gewissen atomistischen Anschauung huldigt, gefährdet. Politisede
Offensive gegen die wiener Fraction. nationale Defensive ^egen die Ansprüche
der Slowaken, Kroaten, Serben und Romunen.so lautet seit zwei Menschenaltern das
Programm der magycirischen Staatsmänner und Patrioten. DieKämpfe, zuerst um die
Wahrung der Verfassungsrechte, dann die Versuche, die Konstitution zu refor¬
mier", den Lebenszwecken der Gegenwart gemäß zu gestalten, ohne die Natio¬
nalität zu gefährden, bilden den Inhalt der neuern ungarischen Geschichte.
Die Erzählung derselben füllt auch die Blätter des Horv^es'schen Buches. Wir
müssen dem Autor das Zeugniß geben, daß er seine Aufgabe richtig erfaßt hat,
und sie, soweit es einem Magyaren möglich ist, auch unbefangen löst. Wo er
der streng historischen Kritik Blößen giebt, fesselt er doch wenigstens das poli¬
tische Interesse, giebt er klaren Aufschluß über die Taktik der Parteien, über
ihre Ziele und Zwecke.

Von dem langen Reichstage v. I. 1825 hebt Horvg-es seine historische Er¬
zählung an. Mehr als ein Jahrzehnt war seit dem letzten Zusammentritt der
Stände vergangen. In Wien hatte man gehofft, durch Zaudern und Zögern
durch eine rein negative Politik die unbequeme ungarische Verfassung beseitigen
zu können, an die zähe Widerstandskraft der Magyaren aber nicht gedacht. Die
Reichsstände schwiegen, desto lauter und ungestümer sprachen die Comitatsstände.
Gerade jetzt erwies sich das mittelalterliche Wesen der ungarischen Verfassung,
sonst spöttisch verurtheilt, überaus zweckdienlich. Die Vermengung administrativer
und legislativer Gerechtsame, die Vielgliedrigkeit des politischen Organismus,
das durch traditionelles Mißtrauen entstandene System formaler Schwierigkeiten
und Schwerfälligkeiten legte die Angriffe des Hofes, der über kein abhängiges
Beamtenheer verfügte, lahm. Derselbe mußte einen Staatsstreich wagen oder in
das constitutionelle Geleise mit einlenken. Die Scheinheiligkeit Kaiser Franz I.
entschied sich sür das letztere, natürlich mit dem geheimen Vorbehalte, die Ver¬
fassung so wenig ernst als möglich zu nehmen. Der Reichstag 182S trat zu¬
sammen. Nach einer beinahe zweijährigen Dauer liefert er kein anderes Re¬
sultat, als daß dem Fürsten die Anerkennung der Constitution abgerungen, die
Bestätigung der alten Landesrechte abgepreßt wurde. "Allerhöchstdieselben, heißt
es im Reichstagabschiede, betrachten es als ihre größte Sorge, die durch den
Krönungseid bekräftigte Verfassung des Landes zu allen Zeiten zu vertheidigen
und einzuhalten und werden daher Allerhöchstdieselben die Gesetzartikcl 10, 12


feire außerhalb des ungarischen Reiches nicht, ihre politische Bedeutung ist
größer als die materielle Grundlage, ihr Streben ist nicht darauf gerichtet, daß
im nationalen Sinne verbundene, politisch getrennte Länder fester geeinigt
werden, sondern daß ihre Herrschaft in dem von mehren Stämmen bewohnten
Reiche erhalten bleibe. Gerade diese Herrschaft wurde aber durch den Ueber¬
gang vom Mittelalter in das moderne Leben, das nur einfache Majoritätsrechte
kennt, einer gewissen atomistischen Anschauung huldigt, gefährdet. Politisede
Offensive gegen die wiener Fraction. nationale Defensive ^egen die Ansprüche
der Slowaken, Kroaten, Serben und Romunen.so lautet seit zwei Menschenaltern das
Programm der magycirischen Staatsmänner und Patrioten. DieKämpfe, zuerst um die
Wahrung der Verfassungsrechte, dann die Versuche, die Konstitution zu refor¬
mier«, den Lebenszwecken der Gegenwart gemäß zu gestalten, ohne die Natio¬
nalität zu gefährden, bilden den Inhalt der neuern ungarischen Geschichte.
Die Erzählung derselben füllt auch die Blätter des Horv^es'schen Buches. Wir
müssen dem Autor das Zeugniß geben, daß er seine Aufgabe richtig erfaßt hat,
und sie, soweit es einem Magyaren möglich ist, auch unbefangen löst. Wo er
der streng historischen Kritik Blößen giebt, fesselt er doch wenigstens das poli¬
tische Interesse, giebt er klaren Aufschluß über die Taktik der Parteien, über
ihre Ziele und Zwecke.

Von dem langen Reichstage v. I. 1825 hebt Horvg-es seine historische Er¬
zählung an. Mehr als ein Jahrzehnt war seit dem letzten Zusammentritt der
Stände vergangen. In Wien hatte man gehofft, durch Zaudern und Zögern
durch eine rein negative Politik die unbequeme ungarische Verfassung beseitigen
zu können, an die zähe Widerstandskraft der Magyaren aber nicht gedacht. Die
Reichsstände schwiegen, desto lauter und ungestümer sprachen die Comitatsstände.
Gerade jetzt erwies sich das mittelalterliche Wesen der ungarischen Verfassung,
sonst spöttisch verurtheilt, überaus zweckdienlich. Die Vermengung administrativer
und legislativer Gerechtsame, die Vielgliedrigkeit des politischen Organismus,
das durch traditionelles Mißtrauen entstandene System formaler Schwierigkeiten
und Schwerfälligkeiten legte die Angriffe des Hofes, der über kein abhängiges
Beamtenheer verfügte, lahm. Derselbe mußte einen Staatsstreich wagen oder in
das constitutionelle Geleise mit einlenken. Die Scheinheiligkeit Kaiser Franz I.
entschied sich sür das letztere, natürlich mit dem geheimen Vorbehalte, die Ver¬
fassung so wenig ernst als möglich zu nehmen. Der Reichstag 182S trat zu¬
sammen. Nach einer beinahe zweijährigen Dauer liefert er kein anderes Re¬
sultat, als daß dem Fürsten die Anerkennung der Constitution abgerungen, die
Bestätigung der alten Landesrechte abgepreßt wurde. „Allerhöchstdieselben, heißt
es im Reichstagabschiede, betrachten es als ihre größte Sorge, die durch den
Krönungseid bekräftigte Verfassung des Landes zu allen Zeiten zu vertheidigen
und einzuhalten und werden daher Allerhöchstdieselben die Gesetzartikcl 10, 12


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/9>, abgerufen am 19.10.2024.