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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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so bittet zunächst die Statue ein ungleich besser abgeschlossenes Ganze als mit
dem Bogen in der Hand, der wie immer ausgeführt, einen unruhigen und zer¬
streuenden Anblick machen mußte. Vor allem aber gewährt die Aegis das
volle Verständniß des prägnanten Moments, welchen die Statue zur Anschauung
bringt, wie dies vorher verlangt wurde. Die Handlung des Gottes und ihre
Wirkung ist eins, fällt in einen und denselben Moment zusammen, wie in seiner
Haltung und Stellung Ruhe und Bewegung, Zorn und Heiterkeit in seinem
Gesicht im Uebergangsmoment zusammengefaßt erscheinen. Die Aegis ist die
unmittelbar vernichtende göttliche Waffe, sie zeigen und verderben ist eins, eine
Abwehr dagegen ist undenkbar; wer sie in der Hand des Gottes erblickte, hatte
den unmittelbar sinnlichen Eindruck, daß jeder Gegner vor ihm erlegen sein
mußte. Die Frage, ob das Ziel wirklich getroffen sei, ist ebenso müssig, als
die nach dem Gegner, wer er sei und welcher Art, ob einer, ob viele; alles ver¬
schwindet vor der absoluten Gewißheit der Vernichtung, welche der bloße An¬
blick der Aegis bringt. Auch der Gesichtsausdruck erhält durch die Aegis
und das an derselben befindliche Gorgoneion eine eigenthümliche Beleuchtung.
In seiner ursprünglichen Bildung, welche an der rechten Stelle bis in die spä¬
teste Zeit festgehalten wurde, stellt das Gorgoneion die aufs höchste aufgeregten
Leidenschaften der Wuth, des Hasses, des grimmigsten Hohns in der häßlichsten
Verzerrung aus und wurde Feinden jeglicher Art als ein Schreckbild entgegen¬
gehalten, um sie zu verwirren, zu erschüttern und zu lähmen. Nun spricht sich
aber in dem untern Theil des Gesichts Zorn, Wuth und Hohn in wunder¬
barer Mischung aus, dieselben Empfindungen gegen den Feind, welche das
Attribut des Gottes ausdrückt, nehmen wir in seinen Gesichtszügen wahr. Aber
diese verklären sich, je höher unser Blick hinaufsteigt, mehr und mehr zu himm¬
lischer Hohheit und Heiterkeit. Was hier im grassen Ausdruck der entfesselten
Leidenschaft als einer ungebändigten Naturgewalt Schauder und Abscheu erregt,
das strahlt uns aus dem Antlitz des Apollo in der Hoheit des siegesbewußten
Olympiers entgegen. Auch dieser bleibt nicht unberührt von den Schwingungen
leidenschaftlicher Erregung; aber wenn er, der Rächer des Frevels, dem Men¬
schen dadurch näher gerückt und verständlicher wird, so hört er nicht auf, als
göttliches Wesen in übermenschlicher Kraft und Klarheit zu wirken. Derselbe
Apollo, welcher dem Orestes als Erfüllung einer sittlichen Pflicht auferlegt,
den Mord des Vaters auch an der Mutter zu rächen, bekämpft mit Zorn und
Abscheu die Erinnven, welche als dunkle und blinde Naturmächte nur
Blut für Blut heischen, ohne das Sittengesetz, welches die olympischen Götter
der Welt verkünden, gelten zu lassen. So diente die Aegis in der Hand des
Apoll von Belvedere derselben Idee, welche die Statue beseelte und führt das
Kunstwerk auch innerlich zu einem befriedigenden Abschluß.

Wer mit dem Entwicklungsgang der hellenischen Kunst vertraut ist, wird


so bittet zunächst die Statue ein ungleich besser abgeschlossenes Ganze als mit
dem Bogen in der Hand, der wie immer ausgeführt, einen unruhigen und zer¬
streuenden Anblick machen mußte. Vor allem aber gewährt die Aegis das
volle Verständniß des prägnanten Moments, welchen die Statue zur Anschauung
bringt, wie dies vorher verlangt wurde. Die Handlung des Gottes und ihre
Wirkung ist eins, fällt in einen und denselben Moment zusammen, wie in seiner
Haltung und Stellung Ruhe und Bewegung, Zorn und Heiterkeit in seinem
Gesicht im Uebergangsmoment zusammengefaßt erscheinen. Die Aegis ist die
unmittelbar vernichtende göttliche Waffe, sie zeigen und verderben ist eins, eine
Abwehr dagegen ist undenkbar; wer sie in der Hand des Gottes erblickte, hatte
den unmittelbar sinnlichen Eindruck, daß jeder Gegner vor ihm erlegen sein
mußte. Die Frage, ob das Ziel wirklich getroffen sei, ist ebenso müssig, als
die nach dem Gegner, wer er sei und welcher Art, ob einer, ob viele; alles ver¬
schwindet vor der absoluten Gewißheit der Vernichtung, welche der bloße An¬
blick der Aegis bringt. Auch der Gesichtsausdruck erhält durch die Aegis
und das an derselben befindliche Gorgoneion eine eigenthümliche Beleuchtung.
In seiner ursprünglichen Bildung, welche an der rechten Stelle bis in die spä¬
teste Zeit festgehalten wurde, stellt das Gorgoneion die aufs höchste aufgeregten
Leidenschaften der Wuth, des Hasses, des grimmigsten Hohns in der häßlichsten
Verzerrung aus und wurde Feinden jeglicher Art als ein Schreckbild entgegen¬
gehalten, um sie zu verwirren, zu erschüttern und zu lähmen. Nun spricht sich
aber in dem untern Theil des Gesichts Zorn, Wuth und Hohn in wunder¬
barer Mischung aus, dieselben Empfindungen gegen den Feind, welche das
Attribut des Gottes ausdrückt, nehmen wir in seinen Gesichtszügen wahr. Aber
diese verklären sich, je höher unser Blick hinaufsteigt, mehr und mehr zu himm¬
lischer Hohheit und Heiterkeit. Was hier im grassen Ausdruck der entfesselten
Leidenschaft als einer ungebändigten Naturgewalt Schauder und Abscheu erregt,
das strahlt uns aus dem Antlitz des Apollo in der Hoheit des siegesbewußten
Olympiers entgegen. Auch dieser bleibt nicht unberührt von den Schwingungen
leidenschaftlicher Erregung; aber wenn er, der Rächer des Frevels, dem Men¬
schen dadurch näher gerückt und verständlicher wird, so hört er nicht auf, als
göttliches Wesen in übermenschlicher Kraft und Klarheit zu wirken. Derselbe
Apollo, welcher dem Orestes als Erfüllung einer sittlichen Pflicht auferlegt,
den Mord des Vaters auch an der Mutter zu rächen, bekämpft mit Zorn und
Abscheu die Erinnven, welche als dunkle und blinde Naturmächte nur
Blut für Blut heischen, ohne das Sittengesetz, welches die olympischen Götter
der Welt verkünden, gelten zu lassen. So diente die Aegis in der Hand des
Apoll von Belvedere derselben Idee, welche die Statue beseelte und führt das
Kunstwerk auch innerlich zu einem befriedigenden Abschluß.

Wer mit dem Entwicklungsgang der hellenischen Kunst vertraut ist, wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/51>, abgerufen am 20.10.2024.