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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Zustand erblicke, gehe ich zweifelmüthig an ihn heran und sage: "Aber, bester
Sokrates. was ist denn das? wie siehst du aus? das ist ja eine Schande! Zu
Hause bist du beweint und für verschollen erklärt, deinen Kindern hat das Ge¬
richt einen Vormund bestellt, deine Frau, die in tiefer Trauer, von Kummer
und Gram entstellt, sich die Augen fast aus dem Kopfe geweint hat, wird von
ihren Eltern gedrängt, durch eine neue Heirat wieder Trost und Freude in ihr
unglückliches Haus zu bringen, und nun erscheinst du mir hier wie ein Gespenst
zu unserer größten Schande." "Ach Aristomenes", erwiderte er, "du kennst das
Schwanken, die Angriffe und Wechselfälle meines unheilvollen Geschickes nicht!"
Und damit zog er seinen geflickten Mantel über das von Scham geröthete Gesicht,
daß er sich den halben Leib entblößte. Dies jammervolle Schauspiel konnte ich
nicht ertragen, sondern reichte ihm die Hand und suchte ihn aufzurichten, er
aber rief, wie er war, verhüllten Hauptes: "Laß nur, laß nur das Schicksal seinen
Triumph über mich feiern!" Ich erreichte aber doch, daß er mit mir ging,
zog einen von meinen beiden Röcken aus und bekleidete oder bedeckte ihn we¬
nigstens rasch damit und brachte ihn ins Bad, half ihm beim Salben und
Abtrocknen und rieb ihm den entsetzlichen Schmutz ab; dann brachte ich ihn,
der sich mühsam fortschleppte, selbst ermattet ins Wirthshaus. Dort lege ich
ihn ins Bett, faltige ihn mit Speise, erquicke ihn mit Wein und zerstreue ihn
durch Erzählungen. Schon kommt das Behagen an Gespräch und Scherz, an
Witz und Neckerei, da steigt ihm aus tiefster Brust ein herzbrechender Seufzer
auf, mit wüthender Hand schlägt er sich vor die Stirn und ruft: "Ich Elen-
der, daß ich dem Vergnügen eines kümmerlichen Gladialorenspiels nachlaufen
mußte, um in solchen Jammer zu gerathen. Du weißt ja recht gut, daß ich
des Verdienstes halber von Macedonien wegreiste, und als ich nach zehn
Monaten durch meine Thätigkeit mit einem tüchtigen Geldgewinn heimreiste,
wurde ich kurz vor Larissa, wo ich bei der Durchreise das Schauspiel be¬
suchen wollte, in einem abgelegenen Thal von einer starken Räuberbande ange¬
fallen und vollständig ausgeplündert. Ich selbst entkam endlich und kehrte übel
zugerichtet bei einer Kneipwirthin Meroe ein, die zwar alt aber noch ganz
stattlich war, erzählte ihr die Umstände meiner langen Reise und eiligen Heim¬
kehr, meiner heutigen Beraubung und kläglichen Mißhandlung, worauf sie mich
freundlich ausnahm und mich umsonst als Tischgast und nachher als Bettgenossen
bei sich behielt. Die eine Nacht erfüllte mich mit solcher Naserei, daß ich meine
Kleider, die die Räuber aus Gutmüthigkeit mir gelassen hatten, an sie wandte,
dazu alles Geld, was ich, solange ich noch Kräfte hatte, als Sackträger mir
verdiente, bis mich die gute Frau und mein böses Geschick zu der Jammer¬
gestalt machten, die du fandest." "Du Verdienst aber auch," sagte ich, "das
Aeußerste zu leiden, wenn du die Unzucht mit einem solchen Weibsbild deinem
Haus und deiner Familie vorziehen kannst." Er aber legte vor Schrecken wie


Zustand erblicke, gehe ich zweifelmüthig an ihn heran und sage: „Aber, bester
Sokrates. was ist denn das? wie siehst du aus? das ist ja eine Schande! Zu
Hause bist du beweint und für verschollen erklärt, deinen Kindern hat das Ge¬
richt einen Vormund bestellt, deine Frau, die in tiefer Trauer, von Kummer
und Gram entstellt, sich die Augen fast aus dem Kopfe geweint hat, wird von
ihren Eltern gedrängt, durch eine neue Heirat wieder Trost und Freude in ihr
unglückliches Haus zu bringen, und nun erscheinst du mir hier wie ein Gespenst
zu unserer größten Schande." „Ach Aristomenes", erwiderte er, „du kennst das
Schwanken, die Angriffe und Wechselfälle meines unheilvollen Geschickes nicht!"
Und damit zog er seinen geflickten Mantel über das von Scham geröthete Gesicht,
daß er sich den halben Leib entblößte. Dies jammervolle Schauspiel konnte ich
nicht ertragen, sondern reichte ihm die Hand und suchte ihn aufzurichten, er
aber rief, wie er war, verhüllten Hauptes: „Laß nur, laß nur das Schicksal seinen
Triumph über mich feiern!" Ich erreichte aber doch, daß er mit mir ging,
zog einen von meinen beiden Röcken aus und bekleidete oder bedeckte ihn we¬
nigstens rasch damit und brachte ihn ins Bad, half ihm beim Salben und
Abtrocknen und rieb ihm den entsetzlichen Schmutz ab; dann brachte ich ihn,
der sich mühsam fortschleppte, selbst ermattet ins Wirthshaus. Dort lege ich
ihn ins Bett, faltige ihn mit Speise, erquicke ihn mit Wein und zerstreue ihn
durch Erzählungen. Schon kommt das Behagen an Gespräch und Scherz, an
Witz und Neckerei, da steigt ihm aus tiefster Brust ein herzbrechender Seufzer
auf, mit wüthender Hand schlägt er sich vor die Stirn und ruft: „Ich Elen-
der, daß ich dem Vergnügen eines kümmerlichen Gladialorenspiels nachlaufen
mußte, um in solchen Jammer zu gerathen. Du weißt ja recht gut, daß ich
des Verdienstes halber von Macedonien wegreiste, und als ich nach zehn
Monaten durch meine Thätigkeit mit einem tüchtigen Geldgewinn heimreiste,
wurde ich kurz vor Larissa, wo ich bei der Durchreise das Schauspiel be¬
suchen wollte, in einem abgelegenen Thal von einer starken Räuberbande ange¬
fallen und vollständig ausgeplündert. Ich selbst entkam endlich und kehrte übel
zugerichtet bei einer Kneipwirthin Meroe ein, die zwar alt aber noch ganz
stattlich war, erzählte ihr die Umstände meiner langen Reise und eiligen Heim¬
kehr, meiner heutigen Beraubung und kläglichen Mißhandlung, worauf sie mich
freundlich ausnahm und mich umsonst als Tischgast und nachher als Bettgenossen
bei sich behielt. Die eine Nacht erfüllte mich mit solcher Naserei, daß ich meine
Kleider, die die Räuber aus Gutmüthigkeit mir gelassen hatten, an sie wandte,
dazu alles Geld, was ich, solange ich noch Kräfte hatte, als Sackträger mir
verdiente, bis mich die gute Frau und mein böses Geschick zu der Jammer¬
gestalt machten, die du fandest." „Du Verdienst aber auch," sagte ich, „das
Aeußerste zu leiden, wenn du die Unzucht mit einem solchen Weibsbild deinem
Haus und deiner Familie vorziehen kannst." Er aber legte vor Schrecken wie


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[0453] Zustand erblicke, gehe ich zweifelmüthig an ihn heran und sage: „Aber, bester Sokrates. was ist denn das? wie siehst du aus? das ist ja eine Schande! Zu Hause bist du beweint und für verschollen erklärt, deinen Kindern hat das Ge¬ richt einen Vormund bestellt, deine Frau, die in tiefer Trauer, von Kummer und Gram entstellt, sich die Augen fast aus dem Kopfe geweint hat, wird von ihren Eltern gedrängt, durch eine neue Heirat wieder Trost und Freude in ihr unglückliches Haus zu bringen, und nun erscheinst du mir hier wie ein Gespenst zu unserer größten Schande." „Ach Aristomenes", erwiderte er, „du kennst das Schwanken, die Angriffe und Wechselfälle meines unheilvollen Geschickes nicht!" Und damit zog er seinen geflickten Mantel über das von Scham geröthete Gesicht, daß er sich den halben Leib entblößte. Dies jammervolle Schauspiel konnte ich nicht ertragen, sondern reichte ihm die Hand und suchte ihn aufzurichten, er aber rief, wie er war, verhüllten Hauptes: „Laß nur, laß nur das Schicksal seinen Triumph über mich feiern!" Ich erreichte aber doch, daß er mit mir ging, zog einen von meinen beiden Röcken aus und bekleidete oder bedeckte ihn we¬ nigstens rasch damit und brachte ihn ins Bad, half ihm beim Salben und Abtrocknen und rieb ihm den entsetzlichen Schmutz ab; dann brachte ich ihn, der sich mühsam fortschleppte, selbst ermattet ins Wirthshaus. Dort lege ich ihn ins Bett, faltige ihn mit Speise, erquicke ihn mit Wein und zerstreue ihn durch Erzählungen. Schon kommt das Behagen an Gespräch und Scherz, an Witz und Neckerei, da steigt ihm aus tiefster Brust ein herzbrechender Seufzer auf, mit wüthender Hand schlägt er sich vor die Stirn und ruft: „Ich Elen- der, daß ich dem Vergnügen eines kümmerlichen Gladialorenspiels nachlaufen mußte, um in solchen Jammer zu gerathen. Du weißt ja recht gut, daß ich des Verdienstes halber von Macedonien wegreiste, und als ich nach zehn Monaten durch meine Thätigkeit mit einem tüchtigen Geldgewinn heimreiste, wurde ich kurz vor Larissa, wo ich bei der Durchreise das Schauspiel be¬ suchen wollte, in einem abgelegenen Thal von einer starken Räuberbande ange¬ fallen und vollständig ausgeplündert. Ich selbst entkam endlich und kehrte übel zugerichtet bei einer Kneipwirthin Meroe ein, die zwar alt aber noch ganz stattlich war, erzählte ihr die Umstände meiner langen Reise und eiligen Heim¬ kehr, meiner heutigen Beraubung und kläglichen Mißhandlung, worauf sie mich freundlich ausnahm und mich umsonst als Tischgast und nachher als Bettgenossen bei sich behielt. Die eine Nacht erfüllte mich mit solcher Naserei, daß ich meine Kleider, die die Räuber aus Gutmüthigkeit mir gelassen hatten, an sie wandte, dazu alles Geld, was ich, solange ich noch Kräfte hatte, als Sackträger mir verdiente, bis mich die gute Frau und mein böses Geschick zu der Jammer¬ gestalt machten, die du fandest." „Du Verdienst aber auch," sagte ich, „das Aeußerste zu leiden, wenn du die Unzucht mit einem solchen Weibsbild deinem Haus und deiner Familie vorziehen kannst." Er aber legte vor Schrecken wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/453>, abgerufen am 19.10.2024.