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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Man kann ihm die Freude an seiner Wirksamkeit verkümmern, man kann ihn
hindern, zu wachsen und zu erstarken, aber es ist unmöglich, ihn wie einen
Baum umzupflanzen oder durch gewaltsame Pfropsung zum Hervorbringen einer
neuen Fmchtgattung zu zwingen. Handelt es sich gar darum, dieses Experi-
ment an einem ganzen Völkerwalde vorzunehmen, zu gleicher Zeit aus finn-
ländischen Schweden, deutschen Liv-, Est- und Kurländern und lithauischen
Polen Russen zu machen, einen ganzen Höhenzug aristokratischer Bildung zu
nivelliren, so erscheint ein solches Unternehmen als reine Don-Quixoterie, die
sich früh oder spät an ihren Urhebern empfindlich rächen muß.

Ob diese Nemesis dereinst wirklich zu ihrem Recht gelangt, ist für die balti-
schen Provinzen Rußlands, wenn sie diesen Tag nicht noch bei lebendigemMbe
erleben, gleichgiltig -- sie sind vcrmtheilt, stille zu halten und über sich ergehen
zu lassen, was zur Zeit unabwendbar erscheint; ohne Aussicht auf Erfolg zu
streiten, ist zu allen Zeiten ihr Loos gewesen. Die blutige Geschichte, welche
hinter ihnen liegt, hat sie gelehrt, mit unverwüstlicher Zähigkeit auszuhalten
und den passiven Widerstand zum Rang eines selbständigen politischen Systems zu
erheben, aber den Sieg vermag derselbe ihnen nicht zu sichern. In den Augen
des deutschen Volkes seit drei Jahrhunderten "versunken und vergessen", wird
diese nordische Colonie, wenn sie zu Grunde geht, die Gewißheit ins Grab
nehmen, daß ihr Ausscheiden gerade von den nächsten Blutsfreunden am wenig¬
sten bemerkt worden ist. Gerade darum kann sie aber eines verlangen: daß
diejenigen, die bei ihrem Leben nichts nach ihr gefragt haben, sie auch nicht
schmähen und verlästern, wo sichs für sie um Leben und Sterben handelt. Das
geschieht aber, wenn die verbrauchten Phrasen von unverbesserlicher deutscher
Feudalwirthschaft, erbarmungsloser Tyrannei gegen unterworfene Sklaven, blin¬
dem Sträuben gegen die Wohlthaten der vorgeschritteneren russischen Demokratie :c.
Periodisch in der deutschen Presse wiedeckehren und von denen am häufigsten
wiederholt werden, welche von der harten Arbeit der deutschen Pioniere im
baltischen Norden am wenigsten wissen. Die Schuld, welche auf den Enkeln
der Eroberer dieses Strandes lastet, haben dieselbe schwer genug gebüßt und
an Versuchen zu ihrer Sühnung hat es niemals, am wenigsten in den letzten
Jahren gefehlt -- der beträchtliche Schuldanthcil, welchen das gesammte deutsche
Volk auf sich lud, als es seine Söhne in die Ferne sandte, um dieselben dann
sich selbst und der Nothwendigkeit einer Selbsterhaltung um jeden Preis, auch
den der Zwinghcnschaft über die Urbewohner, zu überlassen, er wird sich dereinst viel¬
leicht dadurch strafen, daß man auch in Deutschland, wenn es zu spät ist, ein¬
sehen lernt, daß die untergegangene Colonie auch für das Mutterland nicht
ganz ohne Nutzen gewesen sei. Des versprengten Postens am Ostseestrande sich
Zu schämen hat das deutsche Volk niemals ein Recht und wenigstens in der
Gegenwart nicht Grund gehabt, als Männer haben die deutschen Beherrscher


Man kann ihm die Freude an seiner Wirksamkeit verkümmern, man kann ihn
hindern, zu wachsen und zu erstarken, aber es ist unmöglich, ihn wie einen
Baum umzupflanzen oder durch gewaltsame Pfropsung zum Hervorbringen einer
neuen Fmchtgattung zu zwingen. Handelt es sich gar darum, dieses Experi-
ment an einem ganzen Völkerwalde vorzunehmen, zu gleicher Zeit aus finn-
ländischen Schweden, deutschen Liv-, Est- und Kurländern und lithauischen
Polen Russen zu machen, einen ganzen Höhenzug aristokratischer Bildung zu
nivelliren, so erscheint ein solches Unternehmen als reine Don-Quixoterie, die
sich früh oder spät an ihren Urhebern empfindlich rächen muß.

Ob diese Nemesis dereinst wirklich zu ihrem Recht gelangt, ist für die balti-
schen Provinzen Rußlands, wenn sie diesen Tag nicht noch bei lebendigemMbe
erleben, gleichgiltig — sie sind vcrmtheilt, stille zu halten und über sich ergehen
zu lassen, was zur Zeit unabwendbar erscheint; ohne Aussicht auf Erfolg zu
streiten, ist zu allen Zeiten ihr Loos gewesen. Die blutige Geschichte, welche
hinter ihnen liegt, hat sie gelehrt, mit unverwüstlicher Zähigkeit auszuhalten
und den passiven Widerstand zum Rang eines selbständigen politischen Systems zu
erheben, aber den Sieg vermag derselbe ihnen nicht zu sichern. In den Augen
des deutschen Volkes seit drei Jahrhunderten „versunken und vergessen", wird
diese nordische Colonie, wenn sie zu Grunde geht, die Gewißheit ins Grab
nehmen, daß ihr Ausscheiden gerade von den nächsten Blutsfreunden am wenig¬
sten bemerkt worden ist. Gerade darum kann sie aber eines verlangen: daß
diejenigen, die bei ihrem Leben nichts nach ihr gefragt haben, sie auch nicht
schmähen und verlästern, wo sichs für sie um Leben und Sterben handelt. Das
geschieht aber, wenn die verbrauchten Phrasen von unverbesserlicher deutscher
Feudalwirthschaft, erbarmungsloser Tyrannei gegen unterworfene Sklaven, blin¬
dem Sträuben gegen die Wohlthaten der vorgeschritteneren russischen Demokratie :c.
Periodisch in der deutschen Presse wiedeckehren und von denen am häufigsten
wiederholt werden, welche von der harten Arbeit der deutschen Pioniere im
baltischen Norden am wenigsten wissen. Die Schuld, welche auf den Enkeln
der Eroberer dieses Strandes lastet, haben dieselbe schwer genug gebüßt und
an Versuchen zu ihrer Sühnung hat es niemals, am wenigsten in den letzten
Jahren gefehlt — der beträchtliche Schuldanthcil, welchen das gesammte deutsche
Volk auf sich lud, als es seine Söhne in die Ferne sandte, um dieselben dann
sich selbst und der Nothwendigkeit einer Selbsterhaltung um jeden Preis, auch
den der Zwinghcnschaft über die Urbewohner, zu überlassen, er wird sich dereinst viel¬
leicht dadurch strafen, daß man auch in Deutschland, wenn es zu spät ist, ein¬
sehen lernt, daß die untergegangene Colonie auch für das Mutterland nicht
ganz ohne Nutzen gewesen sei. Des versprengten Postens am Ostseestrande sich
Zu schämen hat das deutsche Volk niemals ein Recht und wenigstens in der
Gegenwart nicht Grund gehabt, als Männer haben die deutschen Beherrscher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/383>, abgerufen am 20.10.2024.