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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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allein herausgab. Vergebens suchte ihn Sieyes, der damals als französischer
Gesandter zu Berlin lebte, seinem verfehlten kritischen Beruf abwendig zu
machen und ihn in den Dienst der jungen "ncugallischcn" Republik zu ziehen;
er glaubte es sich selbst und seinen Freunden schuldig zu sein, aus seinem
Posten auszuharren und die Sache des "wahren guten Geschmacks" zu ver¬
treten.

Als Merkel nach Deutschland kam, standen die Weimarer Dioskuren auf
dem Höhepunkt ihrer literarischen und gesellschaftlichen Bedeutung; die Keinen
waren soeben erschienen und hatten über Freund und Feind ein Strafgericht
gehalten, durch welches Wieland, der Merkel genau befreundete Engel u. a. sich
tief verletzt fühlten. Durchdrungen von dem Bewußtsein, hinsichtlich seiner
Zwecke über dem Verfasser der Keinen zu stehen, war der Verfasser der Letten
Goethe nicht ohne Anmaßung begegnet und von diesem ziemlich geringschätzig
behandelt worden, Grund genug für den leidenschaftlichen jungen Aufklärer, um
ein geschworener Feind des Mannes zu werden, von dessen Größe er kaum
etwas ahnte und den er eigentlich nur als Gegner der französischen Revolution
und als schmälerer des Ruhms seine Freunde und Gönner kannte. Dazu
kam, daß Goethe damals die Männer der romantischen Schule, die aus ihrer
Geringschätzung Herders und Wielands kaum ein Hehl machte, entschieden be¬
vorzugte. Als diese Schule den Anlauf "ahn, die Umkehr, wenn nicht der
Wissenschaft, so doch der Kunst zu predigen und die Lehre von der hohen
künstlerischen Bedeutung des "finstern" Mittelalters zu verkündigen, gehörte
Merkel zu den ersten, die in die Lärmtrompete stießen und Verrath an den
Ideen des philosophischen Jahrhunderts witterten. Von seinen Freunden heim¬
lich, aber unaufhörlich gestachelt, von den überlegenen Gegnern verhöhnt und
verspottet, ließ Merkel sich zu einer Polemik gegen die "neue Schule" und die
Romantiker hinreißen, die bald alles Maß der Vernunft und Sitte überschritt.
In den "Briefen an ein Frauenzimmer" und den "Briefen über Literatur" hat
er seiner Geschmacklosigkeit ein Denkmal gesetzt, das all die würdigeren Be-
strebungen seines frühern, wie seines spätern Lebens zu überdauern, seinen Namen
für alle Zeit zu einem verschenken zu machen droht. Und doch nimmt diese kritisch-
ästhctische Periode, die in den zahllosen kreischen Artikeln des "Freimüthigen"
"kaut" ac combattants" ihren Abschluß fand, einen nur bescheidenen Theil in
dem Leben dieses Schriftstellers ein.

Der "Freimüthige" zerfiel in zwei Rubriken, eine kritisch-ästhetische und eine
politische die den wunderlichen Titel "Unpolitische Zeitung" führte. Während
des Dranges der Jahre 1805 und 1806 trat dieser anfangs ziemlich unbedeu¬
tende Theil der merlelschen Zeitschrift mehr und mehr in den Vordergrund.
An Widerspruch gegen die herrschenden Autoritäten des Tages gewöhnt und
seiner ganzen Natur nach ein geborener Oppositionsmann, war der Redacteur


Grcnzl'oder II. 18ki7. 35

allein herausgab. Vergebens suchte ihn Sieyes, der damals als französischer
Gesandter zu Berlin lebte, seinem verfehlten kritischen Beruf abwendig zu
machen und ihn in den Dienst der jungen „ncugallischcn" Republik zu ziehen;
er glaubte es sich selbst und seinen Freunden schuldig zu sein, aus seinem
Posten auszuharren und die Sache des „wahren guten Geschmacks" zu ver¬
treten.

Als Merkel nach Deutschland kam, standen die Weimarer Dioskuren auf
dem Höhepunkt ihrer literarischen und gesellschaftlichen Bedeutung; die Keinen
waren soeben erschienen und hatten über Freund und Feind ein Strafgericht
gehalten, durch welches Wieland, der Merkel genau befreundete Engel u. a. sich
tief verletzt fühlten. Durchdrungen von dem Bewußtsein, hinsichtlich seiner
Zwecke über dem Verfasser der Keinen zu stehen, war der Verfasser der Letten
Goethe nicht ohne Anmaßung begegnet und von diesem ziemlich geringschätzig
behandelt worden, Grund genug für den leidenschaftlichen jungen Aufklärer, um
ein geschworener Feind des Mannes zu werden, von dessen Größe er kaum
etwas ahnte und den er eigentlich nur als Gegner der französischen Revolution
und als schmälerer des Ruhms seine Freunde und Gönner kannte. Dazu
kam, daß Goethe damals die Männer der romantischen Schule, die aus ihrer
Geringschätzung Herders und Wielands kaum ein Hehl machte, entschieden be¬
vorzugte. Als diese Schule den Anlauf »ahn, die Umkehr, wenn nicht der
Wissenschaft, so doch der Kunst zu predigen und die Lehre von der hohen
künstlerischen Bedeutung des „finstern" Mittelalters zu verkündigen, gehörte
Merkel zu den ersten, die in die Lärmtrompete stießen und Verrath an den
Ideen des philosophischen Jahrhunderts witterten. Von seinen Freunden heim¬
lich, aber unaufhörlich gestachelt, von den überlegenen Gegnern verhöhnt und
verspottet, ließ Merkel sich zu einer Polemik gegen die „neue Schule" und die
Romantiker hinreißen, die bald alles Maß der Vernunft und Sitte überschritt.
In den „Briefen an ein Frauenzimmer" und den „Briefen über Literatur" hat
er seiner Geschmacklosigkeit ein Denkmal gesetzt, das all die würdigeren Be-
strebungen seines frühern, wie seines spätern Lebens zu überdauern, seinen Namen
für alle Zeit zu einem verschenken zu machen droht. Und doch nimmt diese kritisch-
ästhctische Periode, die in den zahllosen kreischen Artikeln des „Freimüthigen"
„kaut« ac combattants" ihren Abschluß fand, einen nur bescheidenen Theil in
dem Leben dieses Schriftstellers ein.

Der „Freimüthige" zerfiel in zwei Rubriken, eine kritisch-ästhetische und eine
politische die den wunderlichen Titel „Unpolitische Zeitung" führte. Während
des Dranges der Jahre 1805 und 1806 trat dieser anfangs ziemlich unbedeu¬
tende Theil der merlelschen Zeitschrift mehr und mehr in den Vordergrund.
An Widerspruch gegen die herrschenden Autoritäten des Tages gewöhnt und
seiner ganzen Natur nach ein geborener Oppositionsmann, war der Redacteur


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[0277] allein herausgab. Vergebens suchte ihn Sieyes, der damals als französischer Gesandter zu Berlin lebte, seinem verfehlten kritischen Beruf abwendig zu machen und ihn in den Dienst der jungen „ncugallischcn" Republik zu ziehen; er glaubte es sich selbst und seinen Freunden schuldig zu sein, aus seinem Posten auszuharren und die Sache des „wahren guten Geschmacks" zu ver¬ treten. Als Merkel nach Deutschland kam, standen die Weimarer Dioskuren auf dem Höhepunkt ihrer literarischen und gesellschaftlichen Bedeutung; die Keinen waren soeben erschienen und hatten über Freund und Feind ein Strafgericht gehalten, durch welches Wieland, der Merkel genau befreundete Engel u. a. sich tief verletzt fühlten. Durchdrungen von dem Bewußtsein, hinsichtlich seiner Zwecke über dem Verfasser der Keinen zu stehen, war der Verfasser der Letten Goethe nicht ohne Anmaßung begegnet und von diesem ziemlich geringschätzig behandelt worden, Grund genug für den leidenschaftlichen jungen Aufklärer, um ein geschworener Feind des Mannes zu werden, von dessen Größe er kaum etwas ahnte und den er eigentlich nur als Gegner der französischen Revolution und als schmälerer des Ruhms seine Freunde und Gönner kannte. Dazu kam, daß Goethe damals die Männer der romantischen Schule, die aus ihrer Geringschätzung Herders und Wielands kaum ein Hehl machte, entschieden be¬ vorzugte. Als diese Schule den Anlauf »ahn, die Umkehr, wenn nicht der Wissenschaft, so doch der Kunst zu predigen und die Lehre von der hohen künstlerischen Bedeutung des „finstern" Mittelalters zu verkündigen, gehörte Merkel zu den ersten, die in die Lärmtrompete stießen und Verrath an den Ideen des philosophischen Jahrhunderts witterten. Von seinen Freunden heim¬ lich, aber unaufhörlich gestachelt, von den überlegenen Gegnern verhöhnt und verspottet, ließ Merkel sich zu einer Polemik gegen die „neue Schule" und die Romantiker hinreißen, die bald alles Maß der Vernunft und Sitte überschritt. In den „Briefen an ein Frauenzimmer" und den „Briefen über Literatur" hat er seiner Geschmacklosigkeit ein Denkmal gesetzt, das all die würdigeren Be- strebungen seines frühern, wie seines spätern Lebens zu überdauern, seinen Namen für alle Zeit zu einem verschenken zu machen droht. Und doch nimmt diese kritisch- ästhctische Periode, die in den zahllosen kreischen Artikeln des „Freimüthigen" „kaut« ac combattants" ihren Abschluß fand, einen nur bescheidenen Theil in dem Leben dieses Schriftstellers ein. Der „Freimüthige" zerfiel in zwei Rubriken, eine kritisch-ästhetische und eine politische die den wunderlichen Titel „Unpolitische Zeitung" führte. Während des Dranges der Jahre 1805 und 1806 trat dieser anfangs ziemlich unbedeu¬ tende Theil der merlelschen Zeitschrift mehr und mehr in den Vordergrund. An Widerspruch gegen die herrschenden Autoritäten des Tages gewöhnt und seiner ganzen Natur nach ein geborener Oppositionsmann, war der Redacteur Grcnzl'oder II. 18ki7. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/277>, abgerufen am 24.08.2024.