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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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dieser Vater schon im Jahr 1782 verstirb, hat'e er auf die Entwickelung Gar-
liebs einen entscheidenden Einfluß geübt, indem er ihm den Rationalismus in
religiösen wie in polnischen und ästhetischen Dingen, den er sich selbst inmitten
einer altgläubigen Umgebung mühsam angeeignet hatte, als theuerstes Vermächt¬
nis; hinterließ. Nach dem Tode des Baders lebte der dreizehnjährige Knabe
anderthalb Jahre lang, abgeschieden von der Welt, in der Bibliothek des Vaters;
als die in ärmlichen Verhältnissen zurückgebliebene Mutter es endlich möglich
machen konnte, den Knaben nach Riga in das dortige Gymnasium zu schicken,
war derselbe durch die verfrühte Bekanntschaft mit der französischen Philosophie
und' den Classikern des achtzehnten Jahrhunderts für jeden regelmäßigen Unter¬
richt verdarben. Voltaire und Wieland, die Penaten der väterlichen Studir-
stube, waren den Lehrern, von denen der junge Merkel seine Bildung empfangen
sollte und die ausnahmslos in dem trockenen Latinismus und der steifen Ortho¬
doxie ihrer Zeit und ihres zurückgebliebenen Landes steckten, kaum dem
Namen nach bekannt und so sah er mit tiefer Verachtung auf sie herab. Er
war und blieb Autodidakt, verlebte seine Gymnasialzeit im Umgang mit den
Mitgliedern des ncubegründeten rigaer Theaters und disputirte Nachts mit ver¬
laufenen deutschen Genies darüber, ob Voltaire größer sei als Schiller. Da es
ihm an den Mitteln fehlte, eine Universität zu beziehen, wurde er nach be¬
endeten Schulcursus Hauslehrer in einem adeligen livlcindischen Hause. Durch¬
drungen von den menschenfreundlichen und liberalen Ideen des philosophischen
Jahrhunderts, wurde er durch das Elend der unter dem Joch harter Leibeigen¬
schaft schmachtenden Letten, die er erst jetzt näher kennen lernte, zu leidenschaft¬
lichem Haß gegen die ländlichen Zustände seines Vaterlandes, gegen seine ge-
sammte Umgebung entzündet. Das Elend, das er vor Augen hatte, ließ ihm
keine Ruhe, es duldete ihn nicht in der Rolle des passiven Zuschauers, er be¬
schloß handelnd einzugreifen und die entwürdigenden Zustände, die er kennen
gelernt hatte, vor ganz Europa an den Pranger zu stellen. Inmitten einer
Umgebung, die die stumme Sklaverei des Bauernstandes als ein natürliches,
durchaus berechtigtes Verhältniß ansah, mußte er, was ihn im Herzen bewegte,
sorgfältig verschließen. Tags über die bescheidene Rolle spielen, die dem bürger¬
lichen Hauslehrer in einem adeligen Hause zugewiesen war, schweigend der Ver¬
handlung über Gegenstände zuhören, die sein Blut kochen machten -- um
Nachts in dem Buch, das er heimlich schrieb, den glühenden Protesten einen
Ausdruck zu geben, mit denen er sich gegen das Fortbestehen aller ihn um¬
gebenden Verhältnisse erklärte. Mit den Ersparnissen seiner beinahe zehnjährigen
Hauslehrcrschaft begab Merkel sich im Frühling 1796 nach Leipzig, um hier zu
studiren und sein Buch drucken zu lassen. Es hieß "Die Letten, vorzüglich in
Livland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts", und war das Product
der argen Verhältnisse, unter denen es entstanden und des begeisterten, heimlich


dieser Vater schon im Jahr 1782 verstirb, hat'e er auf die Entwickelung Gar-
liebs einen entscheidenden Einfluß geübt, indem er ihm den Rationalismus in
religiösen wie in polnischen und ästhetischen Dingen, den er sich selbst inmitten
einer altgläubigen Umgebung mühsam angeeignet hatte, als theuerstes Vermächt¬
nis; hinterließ. Nach dem Tode des Baders lebte der dreizehnjährige Knabe
anderthalb Jahre lang, abgeschieden von der Welt, in der Bibliothek des Vaters;
als die in ärmlichen Verhältnissen zurückgebliebene Mutter es endlich möglich
machen konnte, den Knaben nach Riga in das dortige Gymnasium zu schicken,
war derselbe durch die verfrühte Bekanntschaft mit der französischen Philosophie
und' den Classikern des achtzehnten Jahrhunderts für jeden regelmäßigen Unter¬
richt verdarben. Voltaire und Wieland, die Penaten der väterlichen Studir-
stube, waren den Lehrern, von denen der junge Merkel seine Bildung empfangen
sollte und die ausnahmslos in dem trockenen Latinismus und der steifen Ortho¬
doxie ihrer Zeit und ihres zurückgebliebenen Landes steckten, kaum dem
Namen nach bekannt und so sah er mit tiefer Verachtung auf sie herab. Er
war und blieb Autodidakt, verlebte seine Gymnasialzeit im Umgang mit den
Mitgliedern des ncubegründeten rigaer Theaters und disputirte Nachts mit ver¬
laufenen deutschen Genies darüber, ob Voltaire größer sei als Schiller. Da es
ihm an den Mitteln fehlte, eine Universität zu beziehen, wurde er nach be¬
endeten Schulcursus Hauslehrer in einem adeligen livlcindischen Hause. Durch¬
drungen von den menschenfreundlichen und liberalen Ideen des philosophischen
Jahrhunderts, wurde er durch das Elend der unter dem Joch harter Leibeigen¬
schaft schmachtenden Letten, die er erst jetzt näher kennen lernte, zu leidenschaft¬
lichem Haß gegen die ländlichen Zustände seines Vaterlandes, gegen seine ge-
sammte Umgebung entzündet. Das Elend, das er vor Augen hatte, ließ ihm
keine Ruhe, es duldete ihn nicht in der Rolle des passiven Zuschauers, er be¬
schloß handelnd einzugreifen und die entwürdigenden Zustände, die er kennen
gelernt hatte, vor ganz Europa an den Pranger zu stellen. Inmitten einer
Umgebung, die die stumme Sklaverei des Bauernstandes als ein natürliches,
durchaus berechtigtes Verhältniß ansah, mußte er, was ihn im Herzen bewegte,
sorgfältig verschließen. Tags über die bescheidene Rolle spielen, die dem bürger¬
lichen Hauslehrer in einem adeligen Hause zugewiesen war, schweigend der Ver¬
handlung über Gegenstände zuhören, die sein Blut kochen machten — um
Nachts in dem Buch, das er heimlich schrieb, den glühenden Protesten einen
Ausdruck zu geben, mit denen er sich gegen das Fortbestehen aller ihn um¬
gebenden Verhältnisse erklärte. Mit den Ersparnissen seiner beinahe zehnjährigen
Hauslehrcrschaft begab Merkel sich im Frühling 1796 nach Leipzig, um hier zu
studiren und sein Buch drucken zu lassen. Es hieß „Die Letten, vorzüglich in
Livland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts", und war das Product
der argen Verhältnisse, unter denen es entstanden und des begeisterten, heimlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/275>, abgerufen am 22.07.2024.