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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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auf Märkten sollen sie nicht tanzen, dies Ane.ndem-ut, ich stell' es im Interesse
meiner Kunst".

In Königsberg hatten schon um 1770, also mindestens so früh als in Berlin,
die wohlhabenden Juden durch Bildung sich den Eintritt in die besseren geselligen
Kreise erkämpft. In einer damaligen Reisebeschreibung heißt es, daß gewisse Fami¬
lien der reichen Judenschaft in großem Ansehn stehn. "Viele von ihren Gattinnen
und Töchtern gcnicßert hier eine Ehre, worüber manche delicate Schöne, wenn sie
diese Stelle lesen würde, das Naschen rümpfen möchte, sie werden nämlich in die
besten Gesellschaften der hiesigen Einwohner gezogen" u. f. w. Den jüdischen Stu-
direnden der Medicin Marcus Herz wählte Kant 1770, ungeachtet des lauten Wi¬
derspruchs einiger Mitglieder des akademischen Senats, zum Nespondcntcn bei seiner
Inauguraldissertation als Professor, er wurde bekanntlich später als Arzt in Berlin
einer der eifrigsten Apostel der kantischen Philosophie. Promcwiren konnte er aber
an der königsberger Universität nicht, deren Statut alle Nichtcvangelischcn aus¬
schließt. Doch schon 1781 ertheilte die medicinische Facultüt, mit Abänderung der
Eidesformel, zum ersten Mal einem Juden die Doctorwürde. Ueber die durch den
Minister Eichhorn im I. 1847 angeregten (jetzt wie verlautet durch den Minister
v. Muster ihrem Abschluß entgegen geführten) Bestrebungen, den confessionellen Cha¬
rakter der Universität aufzuheben, mag man in dem Buche des Dr. I. näheres
nachlesen. Dasselbe verdient allen. die sich für den Gegenstand interessiren, em¬
pfohlen zu werden.

Der Zeitroman, der uns culturhistorische Zustände und Ereignisse unserer Tage
in lebendigen Typen darzustellen sucht, wird bei einigermaßen anziehender Darstellung
immer ein großes Publikum und erheblichen Einfluß auf dasselbe gewinnen; er muß
aber deshalb auch um so genauer betrachtet werden. Wir erwähnen als eine der
besseren Erscheinungen dieser Kategorie: .


Deutsche Schützen-, Turner- und Liedcrbrüder, oder: Was will das
Volk? (Jena, Costenoble),

dessen Verfasser bereits vier ebenso pikant modern als obscur klingende Nomantitcl
sein eigen nennt. Das Ncsums der jüngsten Zeitgeschichte, wie unser Volk bei sei¬
nem Ringen nach Einheit und Verbrüderung inmitten einer bequemen und genu߬
süchtigen Zeit c§ nur zu symbolischen und wesentlich materiellen Festen mit viel
Phrasenthum und Selbsttäuschung hat bringen können, während es gegen die ein¬
zige Macht, die ihm zu helfen berufen war. systematische Opposition bildete und sich
von ihr schließlich zur Erfüllung seiner Wünsche zwingen lassen mußte, ist in den
Schicksalen und Raisonnements der hier agirenden Personen lebendig abgewickelt;
nur ist das Arsenal des Künstlers recht mangelhaft. Die im Anfang gut angelegte
Handlung wird übereilt, die Charaktere verflüchtigen sich, namentlich entpuppen sich
die zur conservativen Partei gehörigen Figuren als Heuchler, Denuncianten :c.
Auf diese Weise ist freilich auch mit den ernsthaftesten Problemen schnell fertig zu
werden.

Sehr schlüpfrig wird das Terrain für den Zeitroman, wenn er Namen oder
Charakter hervorragender Persönlichkeiten in sein Bereich zieht; er wird dann nur


auf Märkten sollen sie nicht tanzen, dies Ane.ndem-ut, ich stell' es im Interesse
meiner Kunst".

In Königsberg hatten schon um 1770, also mindestens so früh als in Berlin,
die wohlhabenden Juden durch Bildung sich den Eintritt in die besseren geselligen
Kreise erkämpft. In einer damaligen Reisebeschreibung heißt es, daß gewisse Fami¬
lien der reichen Judenschaft in großem Ansehn stehn. „Viele von ihren Gattinnen
und Töchtern gcnicßert hier eine Ehre, worüber manche delicate Schöne, wenn sie
diese Stelle lesen würde, das Naschen rümpfen möchte, sie werden nämlich in die
besten Gesellschaften der hiesigen Einwohner gezogen" u. f. w. Den jüdischen Stu-
direnden der Medicin Marcus Herz wählte Kant 1770, ungeachtet des lauten Wi¬
derspruchs einiger Mitglieder des akademischen Senats, zum Nespondcntcn bei seiner
Inauguraldissertation als Professor, er wurde bekanntlich später als Arzt in Berlin
einer der eifrigsten Apostel der kantischen Philosophie. Promcwiren konnte er aber
an der königsberger Universität nicht, deren Statut alle Nichtcvangelischcn aus¬
schließt. Doch schon 1781 ertheilte die medicinische Facultüt, mit Abänderung der
Eidesformel, zum ersten Mal einem Juden die Doctorwürde. Ueber die durch den
Minister Eichhorn im I. 1847 angeregten (jetzt wie verlautet durch den Minister
v. Muster ihrem Abschluß entgegen geführten) Bestrebungen, den confessionellen Cha¬
rakter der Universität aufzuheben, mag man in dem Buche des Dr. I. näheres
nachlesen. Dasselbe verdient allen. die sich für den Gegenstand interessiren, em¬
pfohlen zu werden.

Der Zeitroman, der uns culturhistorische Zustände und Ereignisse unserer Tage
in lebendigen Typen darzustellen sucht, wird bei einigermaßen anziehender Darstellung
immer ein großes Publikum und erheblichen Einfluß auf dasselbe gewinnen; er muß
aber deshalb auch um so genauer betrachtet werden. Wir erwähnen als eine der
besseren Erscheinungen dieser Kategorie: .


Deutsche Schützen-, Turner- und Liedcrbrüder, oder: Was will das
Volk? (Jena, Costenoble),

dessen Verfasser bereits vier ebenso pikant modern als obscur klingende Nomantitcl
sein eigen nennt. Das Ncsums der jüngsten Zeitgeschichte, wie unser Volk bei sei¬
nem Ringen nach Einheit und Verbrüderung inmitten einer bequemen und genu߬
süchtigen Zeit c§ nur zu symbolischen und wesentlich materiellen Festen mit viel
Phrasenthum und Selbsttäuschung hat bringen können, während es gegen die ein¬
zige Macht, die ihm zu helfen berufen war. systematische Opposition bildete und sich
von ihr schließlich zur Erfüllung seiner Wünsche zwingen lassen mußte, ist in den
Schicksalen und Raisonnements der hier agirenden Personen lebendig abgewickelt;
nur ist das Arsenal des Künstlers recht mangelhaft. Die im Anfang gut angelegte
Handlung wird übereilt, die Charaktere verflüchtigen sich, namentlich entpuppen sich
die zur conservativen Partei gehörigen Figuren als Heuchler, Denuncianten :c.
Auf diese Weise ist freilich auch mit den ernsthaftesten Problemen schnell fertig zu
werden.

Sehr schlüpfrig wird das Terrain für den Zeitroman, wenn er Namen oder
Charakter hervorragender Persönlichkeiten in sein Bereich zieht; er wird dann nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/203>, abgerufen am 01.07.2024.