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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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vielmehr in Galiläa, wohin sich seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr.
das Judenthum fast ganz zurückgezogen hatte, fort. Zu ganz alten Resten kamen
immer neue Zusätze; verschiedene Auffassungen derselben Stellen, zum Theil sogar
Uebersetzungen verschiedener Lesarten wurden neben einander gestellt und so ent¬
stand ein formloses, buntscheckiges Durcheinander, welches freilich keinerlei An¬
sprüchen genügen kann. Im palästinischen Targum zum Pentateuch, das in den
Ausgaben zum Theil in zwei Recensionen (dem sogenannten Pseudo-Jonathan
und der Hierosolynütana) vorliegt, das aber im Grunde in noch weit mehr
von einander abweichenden Gestalten vorhanden war, wird z. B. Konstantinopel
(gegründet gegen 330) erwähnt, während in der Stelle 1. Mose 43, 31 der
schon vorher abgeht'äffte Thierdienst der Aegypter als noch bestehend erscheint
und andere Stellen, wie wir oben sahen, noch auf ein weit früheres Alter
deuten. Zusage aus einem späteren als dem vierten Jahrhundert finden wir
jedoch in diesem Targum kaum.*) Andere Targume aus diesem Kreise haben
aber selbst aus arabischer Zeit noch Zusätze (vgl. Targ. des Hohen Liedes 1, 2).
Als die Athen eines Einzelnen betrachtet, müßte diese Pcntateuchübersetzung für
eine Ausgeburt des Wahnwitzes gelten; wenn man sie aber als eine Vonaths-
kammer von Ansichten der verschiedenen Jahrhunderte ansieht, so tritt sie in
ein anderes Licht, Freilich kann der Eindruck kein erfreulicher sein. Die äußere
und innere Lage des palästinischen Judenthums war damals eine trübe und
diese spiegelt sich in einem derartigen wild aufgeschossenen Product natürlich
ab. Wir finden hier oft eine sehr große Beschränktheit der Ansichten und einen
unglaublichen Mangel an Verständniß des grade im Pentateuch so herrlich her¬
vortretenden rein Menschlichen. Wenn der Urtext z. B. in rührender Einfach¬
heit erzählt, daß Joseph und Benjamin sich umarme" und weinen (1. Mose 43,14).
so giebt die Uebersetzung als Motiv an, daß Benjamin durch die von ihm vorher-
gesehcne Zerstörung der heiligen Stadt Josephs, Snob, jener wieder durch das
gleiche Schicksal gerührt worden sei, das Benjamins heiliger Stadt, Jerusalem,
bevorstünde. Das Zusammentreffen Jakobs mit Esau, welcher den späteren
Juden als Prototyp des tyrannischen Roms gilt, wird in gradezu burlesker
Weise verdreht. Der wilde, freilich nur zu wohl begründete Haß der Juden
gegen alles Fremde findet nicht selten seinen bittern Ausdruck, wahrend dagegen
das in damaliger Zeit so tief gebeugte Israel hier auf jede Weise verherrlicht
wird. Neben dieser Leidenschaftlichkeit geht doch ein tief prosaischer Zug her,
der selbst in der sagenhaften Ausbildung der Erzählungen des Textes oft her¬
vortritt und die reine Poesie desselben überall verdunkelt. Kurz, das Ganze
berührt auf eine unerquickliche Weise, und es ist sehr leicht, darüber den Stab



") Mit Unrecht findet noch Geiger 1. Mos. 21, 21 zwei Frauen Muhammed" erwähnt.
Daß die Lombardei 4. Mos. 24. 24 durch eine Corruptel in den Text gekommen ist, hat man
schon früher gesehen.

vielmehr in Galiläa, wohin sich seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr.
das Judenthum fast ganz zurückgezogen hatte, fort. Zu ganz alten Resten kamen
immer neue Zusätze; verschiedene Auffassungen derselben Stellen, zum Theil sogar
Uebersetzungen verschiedener Lesarten wurden neben einander gestellt und so ent¬
stand ein formloses, buntscheckiges Durcheinander, welches freilich keinerlei An¬
sprüchen genügen kann. Im palästinischen Targum zum Pentateuch, das in den
Ausgaben zum Theil in zwei Recensionen (dem sogenannten Pseudo-Jonathan
und der Hierosolynütana) vorliegt, das aber im Grunde in noch weit mehr
von einander abweichenden Gestalten vorhanden war, wird z. B. Konstantinopel
(gegründet gegen 330) erwähnt, während in der Stelle 1. Mose 43, 31 der
schon vorher abgeht'äffte Thierdienst der Aegypter als noch bestehend erscheint
und andere Stellen, wie wir oben sahen, noch auf ein weit früheres Alter
deuten. Zusage aus einem späteren als dem vierten Jahrhundert finden wir
jedoch in diesem Targum kaum.*) Andere Targume aus diesem Kreise haben
aber selbst aus arabischer Zeit noch Zusätze (vgl. Targ. des Hohen Liedes 1, 2).
Als die Athen eines Einzelnen betrachtet, müßte diese Pcntateuchübersetzung für
eine Ausgeburt des Wahnwitzes gelten; wenn man sie aber als eine Vonaths-
kammer von Ansichten der verschiedenen Jahrhunderte ansieht, so tritt sie in
ein anderes Licht, Freilich kann der Eindruck kein erfreulicher sein. Die äußere
und innere Lage des palästinischen Judenthums war damals eine trübe und
diese spiegelt sich in einem derartigen wild aufgeschossenen Product natürlich
ab. Wir finden hier oft eine sehr große Beschränktheit der Ansichten und einen
unglaublichen Mangel an Verständniß des grade im Pentateuch so herrlich her¬
vortretenden rein Menschlichen. Wenn der Urtext z. B. in rührender Einfach¬
heit erzählt, daß Joseph und Benjamin sich umarme» und weinen (1. Mose 43,14).
so giebt die Uebersetzung als Motiv an, daß Benjamin durch die von ihm vorher-
gesehcne Zerstörung der heiligen Stadt Josephs, Snob, jener wieder durch das
gleiche Schicksal gerührt worden sei, das Benjamins heiliger Stadt, Jerusalem,
bevorstünde. Das Zusammentreffen Jakobs mit Esau, welcher den späteren
Juden als Prototyp des tyrannischen Roms gilt, wird in gradezu burlesker
Weise verdreht. Der wilde, freilich nur zu wohl begründete Haß der Juden
gegen alles Fremde findet nicht selten seinen bittern Ausdruck, wahrend dagegen
das in damaliger Zeit so tief gebeugte Israel hier auf jede Weise verherrlicht
wird. Neben dieser Leidenschaftlichkeit geht doch ein tief prosaischer Zug her,
der selbst in der sagenhaften Ausbildung der Erzählungen des Textes oft her¬
vortritt und die reine Poesie desselben überall verdunkelt. Kurz, das Ganze
berührt auf eine unerquickliche Weise, und es ist sehr leicht, darüber den Stab



") Mit Unrecht findet noch Geiger 1. Mos. 21, 21 zwei Frauen Muhammed« erwähnt.
Daß die Lombardei 4. Mos. 24. 24 durch eine Corruptel in den Text gekommen ist, hat man
schon früher gesehen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/184>, abgerufen am 22.07.2024.