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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Nicht blos ist in Preußen die Verfassung plötzlich eingeführt worden, als die
Regierung schon seit Jahren sich mit vollem Bewußtsein den Ideen der Neuzeit
entgegengestemmt hatte; die Aera der rettenden Thaten hat auch das Mißver¬
hältniß zwischen dem neuen und dem alten System dadurch wieder auszugleichen
gesucht, daß sie das erstere nach Kräften abschwächte, ein MißVerhältniß, das
schlechterdings nur auf dem entgegengesetzten Wege zu beseitigen ist. Und wie
sehr auch im Uebrigen die jetzigen Parteien durch die Ereignisse belehrt, ver¬
söhnlich gestimmt und einander genähert werden mögen, so kann doch die Um¬
gestaltung der seitherigen innern Organisation und Praxis nicht von der con-
servativen Partei ausgehn; eine Umgestaltung, die, seit lange vergebens erstrebt,
in nicht zu serner Zeit unvermeidlich ist, wenn der Staatsorganismus nicht
blos vorübergehend, sondern dauernd gesunden soll. So viel muß durchaus er¬
reicht werden, aber mehr ist auch nicht erforderlich. Wo sind die Grundrechte
in der britischen Verfassung, von der das festländische Verfassungswesen doch
überall nur der 'Abklatsch ist? Oder vielmehr wo ist die Verfassungsurkunde?
Daß die bürgerlichen Gesetze, die Gerichte und das politische Herkommen genü¬
gen, die Freiheit eines Volks zu sichern, ist freilich unerhölt auf dem Continent,
aber wenn die Forderung, ohne Grundrechte oder Verfassungsurkunde frei zu
sein, uns so überaus unnatürlich erscheint, so beweist das nur, wie wenig diese
Garantien bedeuten ohne jene Grundlagen, die in Preußen, wo die Verfassung
durch eine Revolution begründet und ihr Ausbau durch eine Reaction verhin¬
dert worden ist, durchaus nur durch die Regierungssähigkeit der liberalen Par¬
teien geschaffen werden können.

Wir sagen also: wenn die Einführung der neuen Verfassung uns diesem
Ziele nähert, bringen wir gar kein Opfer oder doch nur eins von denen, ohne
welche ein großer politischer Gewinn niemals errungen wird. Im Fall des
Gegentheils wollen wir uns nicht damit trösten lassen, daß wir dem erwähnten
Ziel schon seit achtzehn Jahren ziemlich fern gestanden haben und zwar niemals
mehr als am Ende dieser Zeit theoretischen Verfassungsglücks und feudaler
Verfassungspraxis. Behaupten aber dürfen wir dann immer noch, daß die
Gleichberechtigung der nicht-feudalen Parteien mit der herrschenden (schlechthin
das Wichtigste in Preußen) mit der Vollständigkeit und Unversehrtheit der
Verfassungsurkunde lediglich nichts zu schaffen hat. Um das Gegentheil zu be¬
weisen, müßte man uns eben zeigen, nicht wie trefflich dieselbe in der Theorie
ist, sondern daß sie allein, im Laufe eines halben Menschenalters, hingereicht
hat, jenes richtige Verhältniß zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem ad¬
ministrativen und dem politischen System zu erzeugen, das für ein gesundes
Verfassungsleben auf die Länge so unentbehrlich ist, als eine feste Grundmauer
für die Dauerhaftigkeit eines Hauses. Es wäre natürlich thöricht zu sagen,
daß die bevorstehende Aenderung an sich schon ein gedeihlicheres Verfassungsleben


Nicht blos ist in Preußen die Verfassung plötzlich eingeführt worden, als die
Regierung schon seit Jahren sich mit vollem Bewußtsein den Ideen der Neuzeit
entgegengestemmt hatte; die Aera der rettenden Thaten hat auch das Mißver¬
hältniß zwischen dem neuen und dem alten System dadurch wieder auszugleichen
gesucht, daß sie das erstere nach Kräften abschwächte, ein MißVerhältniß, das
schlechterdings nur auf dem entgegengesetzten Wege zu beseitigen ist. Und wie
sehr auch im Uebrigen die jetzigen Parteien durch die Ereignisse belehrt, ver¬
söhnlich gestimmt und einander genähert werden mögen, so kann doch die Um¬
gestaltung der seitherigen innern Organisation und Praxis nicht von der con-
servativen Partei ausgehn; eine Umgestaltung, die, seit lange vergebens erstrebt,
in nicht zu serner Zeit unvermeidlich ist, wenn der Staatsorganismus nicht
blos vorübergehend, sondern dauernd gesunden soll. So viel muß durchaus er¬
reicht werden, aber mehr ist auch nicht erforderlich. Wo sind die Grundrechte
in der britischen Verfassung, von der das festländische Verfassungswesen doch
überall nur der 'Abklatsch ist? Oder vielmehr wo ist die Verfassungsurkunde?
Daß die bürgerlichen Gesetze, die Gerichte und das politische Herkommen genü¬
gen, die Freiheit eines Volks zu sichern, ist freilich unerhölt auf dem Continent,
aber wenn die Forderung, ohne Grundrechte oder Verfassungsurkunde frei zu
sein, uns so überaus unnatürlich erscheint, so beweist das nur, wie wenig diese
Garantien bedeuten ohne jene Grundlagen, die in Preußen, wo die Verfassung
durch eine Revolution begründet und ihr Ausbau durch eine Reaction verhin¬
dert worden ist, durchaus nur durch die Regierungssähigkeit der liberalen Par¬
teien geschaffen werden können.

Wir sagen also: wenn die Einführung der neuen Verfassung uns diesem
Ziele nähert, bringen wir gar kein Opfer oder doch nur eins von denen, ohne
welche ein großer politischer Gewinn niemals errungen wird. Im Fall des
Gegentheils wollen wir uns nicht damit trösten lassen, daß wir dem erwähnten
Ziel schon seit achtzehn Jahren ziemlich fern gestanden haben und zwar niemals
mehr als am Ende dieser Zeit theoretischen Verfassungsglücks und feudaler
Verfassungspraxis. Behaupten aber dürfen wir dann immer noch, daß die
Gleichberechtigung der nicht-feudalen Parteien mit der herrschenden (schlechthin
das Wichtigste in Preußen) mit der Vollständigkeit und Unversehrtheit der
Verfassungsurkunde lediglich nichts zu schaffen hat. Um das Gegentheil zu be¬
weisen, müßte man uns eben zeigen, nicht wie trefflich dieselbe in der Theorie
ist, sondern daß sie allein, im Laufe eines halben Menschenalters, hingereicht
hat, jenes richtige Verhältniß zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem ad¬
ministrativen und dem politischen System zu erzeugen, das für ein gesundes
Verfassungsleben auf die Länge so unentbehrlich ist, als eine feste Grundmauer
für die Dauerhaftigkeit eines Hauses. Es wäre natürlich thöricht zu sagen,
daß die bevorstehende Aenderung an sich schon ein gedeihlicheres Verfassungsleben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/24>, abgerufen am 15.01.2025.