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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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begreiflich! Der Kurfürst ist nicht ohne eine gewisse Schärfe des Verstandes
und ein gewisses Gefühl für rein formale Legalität; letztere stand denn auch
den Hofjuristcn höher als die Gebote der politischen Vernunft und die For¬
derungen der rechtlichen Pflicht; und wenn diese gemeinschädliche Race der theo¬
logisch-byzantinischen Juristen mit allem Aufwand einer spitzfindigen Dialektik,
welche Haare spaltet und den Spatzen die Augen aufschießt, ihm, wie uns der
Verfasser der trefflichen historischen Abhandlung "Kurhessen unter dem Vater,
dem Sohn und dem Enkel" (Hamburg. Meißner 186K. dritte Auflage) erzählt,
"die in strengster Form Rechtens vollzogene neue Ordnung der Dinge als einen
an der Krone geübten Raub darstellten, ihm in der Ferne die Möglichkeit der
Wiedcrbcseitigung vorgaukelten", wer wird es nicht begreiflich finden, daß der
von der Sorge für seine eheliche Descendenz geplagte, unentschlossene, mi߬
trauische alte Herr ihnen Gehör schenkte, über ihren Vorschlägen mit selbstquä¬
lerischer Hingebung brütete und durch diese Grübelei zu unheilvollen Entschlüs¬
sen geführt wurde.

Aus diesen Dispositionen entsprang jener Streit zwischen dem Kurfürsten
und seinem Lande, welcher sich nur scheinbar um Hoheitsrechte. in Wirklichkeit
aber um Mein und Dein drehte und die Formen eines langwierigen und
hartnäckigen Prozesses zwischen beiden Theilen annahm.

Es giebt Leute, welche sich in ihre Krankheit verlieben oder auch in ihren
Proceß. Denn der Proceß ist auf socialem Gebiet, was die Krankheit auf
physischem. Wird die Krankheit auch Überstauden, so hinterläßt sie doch immer
ihre Spuren. Ebenso der Proceß, auch wenn er gewonnen wird. Gleichwohl
giebt es Menschen, die auch ihren Prozeß lieb gewinnen, weil es ihren Scharf¬
sinn reizt, ihn tagtäglich in alle Schlupfwinkel, Schnörkel. Cautelen und Jn-
cidenzfalle. in alle möglichen und unmöglichen Eventualitäten hinein zu ver¬
folgen.

Anastasius Grün besingt in einem reizenden Gedicht: "der treue Gefährte"
das Podagra, womit er behaftet ist:


"Ich hatt' einst einen Genossen treu.
Wo ich war, war er auch dabei.
Blieb ich daheim, ging er auch nicht aus.
Und ging ich fort, blieb er nicht zu Haus.
Er trank aus einem Glas mit mir.
Er schlief in einem Bett mit mir.
Wir trugen die Kleider nach einem Schnitt,
Ja selbst zum Liebchen nahm ich ihn mit" u, s. w.

Ein solcher "treuer Gefährte" ist auch ein Proceß, besonders wenn er lange
dauert und man mit einander alt wird. Wenn man eines Morgens erwachte
und fand ihn nicht mehr vor, man würde in Thränen zerfließen. Schlimm


begreiflich! Der Kurfürst ist nicht ohne eine gewisse Schärfe des Verstandes
und ein gewisses Gefühl für rein formale Legalität; letztere stand denn auch
den Hofjuristcn höher als die Gebote der politischen Vernunft und die For¬
derungen der rechtlichen Pflicht; und wenn diese gemeinschädliche Race der theo¬
logisch-byzantinischen Juristen mit allem Aufwand einer spitzfindigen Dialektik,
welche Haare spaltet und den Spatzen die Augen aufschießt, ihm, wie uns der
Verfasser der trefflichen historischen Abhandlung „Kurhessen unter dem Vater,
dem Sohn und dem Enkel" (Hamburg. Meißner 186K. dritte Auflage) erzählt,
„die in strengster Form Rechtens vollzogene neue Ordnung der Dinge als einen
an der Krone geübten Raub darstellten, ihm in der Ferne die Möglichkeit der
Wiedcrbcseitigung vorgaukelten", wer wird es nicht begreiflich finden, daß der
von der Sorge für seine eheliche Descendenz geplagte, unentschlossene, mi߬
trauische alte Herr ihnen Gehör schenkte, über ihren Vorschlägen mit selbstquä¬
lerischer Hingebung brütete und durch diese Grübelei zu unheilvollen Entschlüs¬
sen geführt wurde.

Aus diesen Dispositionen entsprang jener Streit zwischen dem Kurfürsten
und seinem Lande, welcher sich nur scheinbar um Hoheitsrechte. in Wirklichkeit
aber um Mein und Dein drehte und die Formen eines langwierigen und
hartnäckigen Prozesses zwischen beiden Theilen annahm.

Es giebt Leute, welche sich in ihre Krankheit verlieben oder auch in ihren
Proceß. Denn der Proceß ist auf socialem Gebiet, was die Krankheit auf
physischem. Wird die Krankheit auch Überstauden, so hinterläßt sie doch immer
ihre Spuren. Ebenso der Proceß, auch wenn er gewonnen wird. Gleichwohl
giebt es Menschen, die auch ihren Prozeß lieb gewinnen, weil es ihren Scharf¬
sinn reizt, ihn tagtäglich in alle Schlupfwinkel, Schnörkel. Cautelen und Jn-
cidenzfalle. in alle möglichen und unmöglichen Eventualitäten hinein zu ver¬
folgen.

Anastasius Grün besingt in einem reizenden Gedicht: „der treue Gefährte"
das Podagra, womit er behaftet ist:


„Ich hatt' einst einen Genossen treu.
Wo ich war, war er auch dabei.
Blieb ich daheim, ging er auch nicht aus.
Und ging ich fort, blieb er nicht zu Haus.
Er trank aus einem Glas mit mir.
Er schlief in einem Bett mit mir.
Wir trugen die Kleider nach einem Schnitt,
Ja selbst zum Liebchen nahm ich ihn mit" u, s. w.

Ein solcher „treuer Gefährte" ist auch ein Proceß, besonders wenn er lange
dauert und man mit einander alt wird. Wenn man eines Morgens erwachte
und fand ihn nicht mehr vor, man würde in Thränen zerfließen. Schlimm


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[0174] begreiflich! Der Kurfürst ist nicht ohne eine gewisse Schärfe des Verstandes und ein gewisses Gefühl für rein formale Legalität; letztere stand denn auch den Hofjuristcn höher als die Gebote der politischen Vernunft und die For¬ derungen der rechtlichen Pflicht; und wenn diese gemeinschädliche Race der theo¬ logisch-byzantinischen Juristen mit allem Aufwand einer spitzfindigen Dialektik, welche Haare spaltet und den Spatzen die Augen aufschießt, ihm, wie uns der Verfasser der trefflichen historischen Abhandlung „Kurhessen unter dem Vater, dem Sohn und dem Enkel" (Hamburg. Meißner 186K. dritte Auflage) erzählt, „die in strengster Form Rechtens vollzogene neue Ordnung der Dinge als einen an der Krone geübten Raub darstellten, ihm in der Ferne die Möglichkeit der Wiedcrbcseitigung vorgaukelten", wer wird es nicht begreiflich finden, daß der von der Sorge für seine eheliche Descendenz geplagte, unentschlossene, mi߬ trauische alte Herr ihnen Gehör schenkte, über ihren Vorschlägen mit selbstquä¬ lerischer Hingebung brütete und durch diese Grübelei zu unheilvollen Entschlüs¬ sen geführt wurde. Aus diesen Dispositionen entsprang jener Streit zwischen dem Kurfürsten und seinem Lande, welcher sich nur scheinbar um Hoheitsrechte. in Wirklichkeit aber um Mein und Dein drehte und die Formen eines langwierigen und hartnäckigen Prozesses zwischen beiden Theilen annahm. Es giebt Leute, welche sich in ihre Krankheit verlieben oder auch in ihren Proceß. Denn der Proceß ist auf socialem Gebiet, was die Krankheit auf physischem. Wird die Krankheit auch Überstauden, so hinterläßt sie doch immer ihre Spuren. Ebenso der Proceß, auch wenn er gewonnen wird. Gleichwohl giebt es Menschen, die auch ihren Prozeß lieb gewinnen, weil es ihren Scharf¬ sinn reizt, ihn tagtäglich in alle Schlupfwinkel, Schnörkel. Cautelen und Jn- cidenzfalle. in alle möglichen und unmöglichen Eventualitäten hinein zu ver¬ folgen. Anastasius Grün besingt in einem reizenden Gedicht: „der treue Gefährte" das Podagra, womit er behaftet ist: „Ich hatt' einst einen Genossen treu. Wo ich war, war er auch dabei. Blieb ich daheim, ging er auch nicht aus. Und ging ich fort, blieb er nicht zu Haus. Er trank aus einem Glas mit mir. Er schlief in einem Bett mit mir. Wir trugen die Kleider nach einem Schnitt, Ja selbst zum Liebchen nahm ich ihn mit" u, s. w. Ein solcher „treuer Gefährte" ist auch ein Proceß, besonders wenn er lange dauert und man mit einander alt wird. Wenn man eines Morgens erwachte und fand ihn nicht mehr vor, man würde in Thränen zerfließen. Schlimm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/174>, abgerufen am 15.01.2025.