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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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kurhessisch bleiben, oder preußisch werden sollte, vor nun etwa einem Jahre, da
war die Mehrheit der urtheilsfähigem Bevölkerung für die Einverleibung in
Preußen. Denn auch von dem präsumtiven Thronfolger, dem Prinzen Friedrich,
erwartete man nichts; man zog diesem fast noch den letzten Kurfürsten vor und
citirte mit Vorliebe eine Stelle aus Dr. Martin Luthers Schriften, wo es
heißt: "Man liefet von einer Wittwe, die stund und betete für ihren Fürsten
aus das Allerandächtigste, daß ihn Gott ja wolle lang leben lassen. Der Fürst
bords und verwundert sich, weil er wohl wußte, daß er ihr viel Leids gethan,
und daher solches Gebet seltsam war. Denn das Gebet für den Fürsten Pflegte
insgemein ganz anders zu lauten. Er fragte die Wittwe, warum sie so für
ihn betete? Da antwortete sie: Ich hatte zehn Kühe, da Dein Großvater lebte;
der nahm mir zwei; da betete ich wider ihn. daß er stürbe, und Dein Vater
Herr werde; da das geschah, nahm mir Dein Vater drei Kühe; abermals betete
ich. daß Du Herr würdest und er Stube; nun hast Du mir vier Kühe ge¬
nommen; darum bitte ich nun für Dich; denn ich sorge, wer nach Dir kommt,
nimmt mir die letzte Kuh auch mit allem, was ich habe." Man gedachte, seine
letzte Kuh in Sicherheit zu bringen, dadurch daß man preußisch ward. Und
neben den realen Interessen warfen die idealen noch entschiedener ihr Gewicht
in die Wagschale zu Gunsten des Aufgehens des Kurstaats in Preußen. Der
jenenser Professor und Appellationsgcrichtsrath Or. Wilhelm Endemann, ein
geborner Kurhesse, publicirte schon in der Mitte Juli 1866 eine Broschüre:
"Was soll aus Kurhessen werden? Zur Verständigung an alle Kurhessen." Ich
weiß nicht, ob dieselbe in Berlin, wo man damals noch schwankte, wie weit
man im Annectircn gehn solle, von entscheidenden Gewicht war. Für Kurhessen
selbst war die Schrift von zündender Wirkung. Sie war das Manifest der ge¬
bildeten, geistig freien, wirthschaftlich productiven Schichten der Bevölkerung.
Sie athmete eine glühende Begeisterung für die Einheit und verband dieselbe
mit einer vernichtenden Kritik des kurhessischen Kleinstaats. Sie plcudirte un¬
umwunden und direct für "eine wirkliche Einverleibung, welche Kurhessen zu
einer Provinz Preußens macht." Sie schloß mit den Worten:

"Das ist meine Meinung, Ich würde mir einen Voiwurf machen, wenn
ich nicht (durch Nennung des Namens) die volle und offene Verantwortung
dafür übernähme. Ich glaube damit keineswegs etwas Besonderes zu thun.
Denn ich weiß, Viele, und nicht die schlechtsten in Kurhessen, sind mit mir
einverstanden. Einstweilen bindet noch der heutige Zwitterzustind die Meisten,
sich zu erklären. Möge denn diese Darstellung, zu der mir die Anhänglichkeit
an mein Geburtsland und die rolle Kenntniß seiner seitherigen Zustände den
Beruf giebt, dazu beitragen, Zweifel und Muthlvfigl'an abzuschütteln."

Allein auch Professor Endcman", der entschiedenste Unitarier, der eifrige Be¬
kämpfn des Particulcirismus, macht bei seiner Befürwortung der unbedingtesten


kurhessisch bleiben, oder preußisch werden sollte, vor nun etwa einem Jahre, da
war die Mehrheit der urtheilsfähigem Bevölkerung für die Einverleibung in
Preußen. Denn auch von dem präsumtiven Thronfolger, dem Prinzen Friedrich,
erwartete man nichts; man zog diesem fast noch den letzten Kurfürsten vor und
citirte mit Vorliebe eine Stelle aus Dr. Martin Luthers Schriften, wo es
heißt: „Man liefet von einer Wittwe, die stund und betete für ihren Fürsten
aus das Allerandächtigste, daß ihn Gott ja wolle lang leben lassen. Der Fürst
bords und verwundert sich, weil er wohl wußte, daß er ihr viel Leids gethan,
und daher solches Gebet seltsam war. Denn das Gebet für den Fürsten Pflegte
insgemein ganz anders zu lauten. Er fragte die Wittwe, warum sie so für
ihn betete? Da antwortete sie: Ich hatte zehn Kühe, da Dein Großvater lebte;
der nahm mir zwei; da betete ich wider ihn. daß er stürbe, und Dein Vater
Herr werde; da das geschah, nahm mir Dein Vater drei Kühe; abermals betete
ich. daß Du Herr würdest und er Stube; nun hast Du mir vier Kühe ge¬
nommen; darum bitte ich nun für Dich; denn ich sorge, wer nach Dir kommt,
nimmt mir die letzte Kuh auch mit allem, was ich habe." Man gedachte, seine
letzte Kuh in Sicherheit zu bringen, dadurch daß man preußisch ward. Und
neben den realen Interessen warfen die idealen noch entschiedener ihr Gewicht
in die Wagschale zu Gunsten des Aufgehens des Kurstaats in Preußen. Der
jenenser Professor und Appellationsgcrichtsrath Or. Wilhelm Endemann, ein
geborner Kurhesse, publicirte schon in der Mitte Juli 1866 eine Broschüre:
„Was soll aus Kurhessen werden? Zur Verständigung an alle Kurhessen." Ich
weiß nicht, ob dieselbe in Berlin, wo man damals noch schwankte, wie weit
man im Annectircn gehn solle, von entscheidenden Gewicht war. Für Kurhessen
selbst war die Schrift von zündender Wirkung. Sie war das Manifest der ge¬
bildeten, geistig freien, wirthschaftlich productiven Schichten der Bevölkerung.
Sie athmete eine glühende Begeisterung für die Einheit und verband dieselbe
mit einer vernichtenden Kritik des kurhessischen Kleinstaats. Sie plcudirte un¬
umwunden und direct für „eine wirkliche Einverleibung, welche Kurhessen zu
einer Provinz Preußens macht." Sie schloß mit den Worten:

„Das ist meine Meinung, Ich würde mir einen Voiwurf machen, wenn
ich nicht (durch Nennung des Namens) die volle und offene Verantwortung
dafür übernähme. Ich glaube damit keineswegs etwas Besonderes zu thun.
Denn ich weiß, Viele, und nicht die schlechtsten in Kurhessen, sind mit mir
einverstanden. Einstweilen bindet noch der heutige Zwitterzustind die Meisten,
sich zu erklären. Möge denn diese Darstellung, zu der mir die Anhänglichkeit
an mein Geburtsland und die rolle Kenntniß seiner seitherigen Zustände den
Beruf giebt, dazu beitragen, Zweifel und Muthlvfigl'an abzuschütteln."

Allein auch Professor Endcman», der entschiedenste Unitarier, der eifrige Be¬
kämpfn des Particulcirismus, macht bei seiner Befürwortung der unbedingtesten


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[0172] kurhessisch bleiben, oder preußisch werden sollte, vor nun etwa einem Jahre, da war die Mehrheit der urtheilsfähigem Bevölkerung für die Einverleibung in Preußen. Denn auch von dem präsumtiven Thronfolger, dem Prinzen Friedrich, erwartete man nichts; man zog diesem fast noch den letzten Kurfürsten vor und citirte mit Vorliebe eine Stelle aus Dr. Martin Luthers Schriften, wo es heißt: „Man liefet von einer Wittwe, die stund und betete für ihren Fürsten aus das Allerandächtigste, daß ihn Gott ja wolle lang leben lassen. Der Fürst bords und verwundert sich, weil er wohl wußte, daß er ihr viel Leids gethan, und daher solches Gebet seltsam war. Denn das Gebet für den Fürsten Pflegte insgemein ganz anders zu lauten. Er fragte die Wittwe, warum sie so für ihn betete? Da antwortete sie: Ich hatte zehn Kühe, da Dein Großvater lebte; der nahm mir zwei; da betete ich wider ihn. daß er stürbe, und Dein Vater Herr werde; da das geschah, nahm mir Dein Vater drei Kühe; abermals betete ich. daß Du Herr würdest und er Stube; nun hast Du mir vier Kühe ge¬ nommen; darum bitte ich nun für Dich; denn ich sorge, wer nach Dir kommt, nimmt mir die letzte Kuh auch mit allem, was ich habe." Man gedachte, seine letzte Kuh in Sicherheit zu bringen, dadurch daß man preußisch ward. Und neben den realen Interessen warfen die idealen noch entschiedener ihr Gewicht in die Wagschale zu Gunsten des Aufgehens des Kurstaats in Preußen. Der jenenser Professor und Appellationsgcrichtsrath Or. Wilhelm Endemann, ein geborner Kurhesse, publicirte schon in der Mitte Juli 1866 eine Broschüre: „Was soll aus Kurhessen werden? Zur Verständigung an alle Kurhessen." Ich weiß nicht, ob dieselbe in Berlin, wo man damals noch schwankte, wie weit man im Annectircn gehn solle, von entscheidenden Gewicht war. Für Kurhessen selbst war die Schrift von zündender Wirkung. Sie war das Manifest der ge¬ bildeten, geistig freien, wirthschaftlich productiven Schichten der Bevölkerung. Sie athmete eine glühende Begeisterung für die Einheit und verband dieselbe mit einer vernichtenden Kritik des kurhessischen Kleinstaats. Sie plcudirte un¬ umwunden und direct für „eine wirkliche Einverleibung, welche Kurhessen zu einer Provinz Preußens macht." Sie schloß mit den Worten: „Das ist meine Meinung, Ich würde mir einen Voiwurf machen, wenn ich nicht (durch Nennung des Namens) die volle und offene Verantwortung dafür übernähme. Ich glaube damit keineswegs etwas Besonderes zu thun. Denn ich weiß, Viele, und nicht die schlechtsten in Kurhessen, sind mit mir einverstanden. Einstweilen bindet noch der heutige Zwitterzustind die Meisten, sich zu erklären. Möge denn diese Darstellung, zu der mir die Anhänglichkeit an mein Geburtsland und die rolle Kenntniß seiner seitherigen Zustände den Beruf giebt, dazu beitragen, Zweifel und Muthlvfigl'an abzuschütteln." Allein auch Professor Endcman», der entschiedenste Unitarier, der eifrige Be¬ kämpfn des Particulcirismus, macht bei seiner Befürwortung der unbedingtesten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/172>, abgerufen am 15.01.2025.