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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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beinahe ebenso eingebürgert, wie in Wilna und Kiew; russische Beamte waren
bald ebenso zahlreich im warschauer Staaterath wie in den Verwaltungen
der westrussischen Generalgouvernements zu finden. Nachdem ein kaiserlicher
Mas vom 10. (22.) December 1863 angeordnet hatte, daß kein Pole mehr be¬
rechtigt sein sollte, in den nord- und südwestlichen Gouvernements ein Gut zu
kaufen und daß die Güter sämmtlicher im letzten Aufstande compromittirter pol¬
nischer Gutsbesitzer an Russen verkauft werden sollten, nachdem endlich eine
Bank zur Unterstützung russischer Güterkäufer und Kolonisten in Lithauen be¬
gründet worden war, schien der Köcher der russisicatorischen Verordnungen für
Westrußland erschöpft zu sein; man hatte so viel gethan, daß der Regierung
"fast nichts zu thun mehr übrig blieb". Während man die Ausführung der
für die Generalgouvernements Wilna und Kiew erlassenen Vorschriften ab¬
wartete, um eine gänzliche Umgestaltung der Verhältnisse von den Erfolgen des
Gethane" abhängig zu machen, wandte man sich während des ganzen Jahres
1866 dem Königreich zu, um dessen Sonderstellung zu unterminiren, und ein/
neue Bresche in das Polcnlhum zu schießen. Im December 186S war die Sä¬
kularisation der katholischen Kirchengüter und die Aufhebung des größten Theils
der katholischen Klöster vollzogen worden; diesen Maßregeln folgte eine radi-
cale Umgestaltung des Schulwesens, ein Gesetz zur Wahrung des russischen Cha¬
rakters der griechisch-unirten Kirche des, Königreichs und die Begründung ver¬
schiedener griechisch-unirter Seminarien. Im Mai trat der Staatssccretär Ni¬
kolaus Miljutin, die Jncarnation der polenfeindlichen Demokratie, an die Spitze
der polnischen Kanzlei zu Se. Petersburg, wenig später bekundeten drei neue
Gesetze über die Verschmelzung des polnischen Poslwesens. mit dem russischen
die Unterordnung der Finanzverwaltung des Königreichs unter den russischen
Finanzminister, und die neue administrative Einteilung Polens, welche die
historischen Woyewodschaftcn vernichtete, bewies, daß der neue Machthaber seine
Zeit zu nutzen wisse. Im December vorigen Jahres trat freilich ein Rückschlag
ein, der zum Theil in den Verhältnissen begründet war, in der Hauptsache aber
durch ein zufälliges Ereigniß herbeigeführt wurde. Gleich der Mehrzahl feiner
Vorgänger war der kaiserliche Statthalter, Graf Berg, zufolge seiner genaueren
Kenntniß der factischen Verhältnisse, ein Gegner aller gewaltsamen Nussisica-
tioneversuche, der dem Treiben der von-Miljutin geführten russischen Demokratie
in der warschauer Verwaltung mit entschiedenem Mißfallen zugesehen hatte.
Zu cilley Zeiten hat el" entschiedener Antagonismus zwischen der polnischen
Staatskanzlei in Se. Petersburg und der warschauer Statt halterei bestanden;
Paskewtsch, Lambert. Suchasanvfs, Großfürst Konstantin, endlich Greif Berg,
sie alle wußten zu genau, daß man den Bogen nicht allzu scharf spannen dürfe,
wenn er nicht brechen sollte, um jemals unnöthiger Strenge das Wort zureden.
In täglicher Berührung mit den Verhältnissen eines Landes, das die Peters-
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beinahe ebenso eingebürgert, wie in Wilna und Kiew; russische Beamte waren
bald ebenso zahlreich im warschauer Staaterath wie in den Verwaltungen
der westrussischen Generalgouvernements zu finden. Nachdem ein kaiserlicher
Mas vom 10. (22.) December 1863 angeordnet hatte, daß kein Pole mehr be¬
rechtigt sein sollte, in den nord- und südwestlichen Gouvernements ein Gut zu
kaufen und daß die Güter sämmtlicher im letzten Aufstande compromittirter pol¬
nischer Gutsbesitzer an Russen verkauft werden sollten, nachdem endlich eine
Bank zur Unterstützung russischer Güterkäufer und Kolonisten in Lithauen be¬
gründet worden war, schien der Köcher der russisicatorischen Verordnungen für
Westrußland erschöpft zu sein; man hatte so viel gethan, daß der Regierung
„fast nichts zu thun mehr übrig blieb". Während man die Ausführung der
für die Generalgouvernements Wilna und Kiew erlassenen Vorschriften ab¬
wartete, um eine gänzliche Umgestaltung der Verhältnisse von den Erfolgen des
Gethane» abhängig zu machen, wandte man sich während des ganzen Jahres
1866 dem Königreich zu, um dessen Sonderstellung zu unterminiren, und ein/
neue Bresche in das Polcnlhum zu schießen. Im December 186S war die Sä¬
kularisation der katholischen Kirchengüter und die Aufhebung des größten Theils
der katholischen Klöster vollzogen worden; diesen Maßregeln folgte eine radi-
cale Umgestaltung des Schulwesens, ein Gesetz zur Wahrung des russischen Cha¬
rakters der griechisch-unirten Kirche des, Königreichs und die Begründung ver¬
schiedener griechisch-unirter Seminarien. Im Mai trat der Staatssccretär Ni¬
kolaus Miljutin, die Jncarnation der polenfeindlichen Demokratie, an die Spitze
der polnischen Kanzlei zu Se. Petersburg, wenig später bekundeten drei neue
Gesetze über die Verschmelzung des polnischen Poslwesens. mit dem russischen
die Unterordnung der Finanzverwaltung des Königreichs unter den russischen
Finanzminister, und die neue administrative Einteilung Polens, welche die
historischen Woyewodschaftcn vernichtete, bewies, daß der neue Machthaber seine
Zeit zu nutzen wisse. Im December vorigen Jahres trat freilich ein Rückschlag
ein, der zum Theil in den Verhältnissen begründet war, in der Hauptsache aber
durch ein zufälliges Ereigniß herbeigeführt wurde. Gleich der Mehrzahl feiner
Vorgänger war der kaiserliche Statthalter, Graf Berg, zufolge seiner genaueren
Kenntniß der factischen Verhältnisse, ein Gegner aller gewaltsamen Nussisica-
tioneversuche, der dem Treiben der von-Miljutin geführten russischen Demokratie
in der warschauer Verwaltung mit entschiedenem Mißfallen zugesehen hatte.
Zu cilley Zeiten hat el» entschiedener Antagonismus zwischen der polnischen
Staatskanzlei in Se. Petersburg und der warschauer Statt halterei bestanden;
Paskewtsch, Lambert. Suchasanvfs, Großfürst Konstantin, endlich Greif Berg,
sie alle wußten zu genau, daß man den Bogen nicht allzu scharf spannen dürfe,
wenn er nicht brechen sollte, um jemals unnöthiger Strenge das Wort zureden.
In täglicher Berührung mit den Verhältnissen eines Landes, das die Peters-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/393>, abgerufen am 25.07.2024.