Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Im Allgemeinen also ist der Bildungszustand des türkischen Volkes keines¬
wegs so niedrig, als man gewöhnlich einzunehmen geneigt ist. Er ist in den
untern Schichten und im Ganzen ein sehr einfacher, aber in dieser Einfach¬
heit wenigstens ein allgemeiner. -- Wenn man es trotzdem erlebt, daß der
gewöhnliche Türke Prussia und Russia ziemlich häusig verwechselt, den König
von Prussia als Satrapen der Czaren betrachtet, ihm Oestreich und Deutsch¬
land gleichbedeutend sind, oder Deutschland ihm nur aus --4 statt 34 Vater¬
ländern besteht, so sind das Irrthümer, deren Beseitigung theilweise im Abend¬
lande selbst von zu kurzem Datum ist. um dem fernen Volke, dessen intimere
Verhältnisse uns so wenig kümmern, hoch angerechnet werden zu dürfen.

Unter den vermeintlichen Schäden und Gebrechen der heutigen Türkei nimmt
die Vielweiberei und die verkehrten Vorstellungen, die sich an das Harem¬
wesen knüpfen, die erste Stelle ein. Der Koran stellt die Monogamie als das
Natürliche hin und erlaubt im Grunde nur dem Sultan, eine Ausnahme zu
machen; ihm sind vier Weiber gestattet, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß
auch diese Freiheit erst nachträglicher Zusatz war, ebenso wie die späteren Ein¬
schaltungen des Koran, nach welchen sich der Prophet infolge angeblicher Offen¬
barungen auch diese Vierzahl wiederum zu überschreiten gestattete. In Wirk¬
lichkeit war nun allerdings die Polygamie unter den Türken der früheren Zeit
eine ziemlich häufige Erscheinung geworden, aber doch nur in den Kreisen der
Vornehmen und Mächtigen; in den unteren Schichten wird sie stets nur sehr
Vereinzelt vorgekommen sein. Jetzt ist die Monogamie, in Konstantinopel wenig¬
stens, mit alleiniger Ausnahme des Sultans, durchaus von der Sitte gefabelt:
keiner der Großwürdenträger hat mehr als eine Frau, und "Harem" bedeutet
nichts Anderes als die von der Männcrwohnung getrennte Wohnung der Frau
vom Hause, mit dem Zubehör von Dienerinnen und Sclavinnen, welche nach
orientalischer Sitte zum Haushalt der Frauen in ebenso großer Zahl gehören,
wie Diener und Sclaven zum Haushalt des Herrn.

Auf die gesellschaftliche Stellung der Türkinnen sowie auf die Symptome
der Regeneration im Volke kommen wir ausführlicher zurück.




Im Allgemeinen also ist der Bildungszustand des türkischen Volkes keines¬
wegs so niedrig, als man gewöhnlich einzunehmen geneigt ist. Er ist in den
untern Schichten und im Ganzen ein sehr einfacher, aber in dieser Einfach¬
heit wenigstens ein allgemeiner. — Wenn man es trotzdem erlebt, daß der
gewöhnliche Türke Prussia und Russia ziemlich häusig verwechselt, den König
von Prussia als Satrapen der Czaren betrachtet, ihm Oestreich und Deutsch¬
land gleichbedeutend sind, oder Deutschland ihm nur aus —4 statt 34 Vater¬
ländern besteht, so sind das Irrthümer, deren Beseitigung theilweise im Abend¬
lande selbst von zu kurzem Datum ist. um dem fernen Volke, dessen intimere
Verhältnisse uns so wenig kümmern, hoch angerechnet werden zu dürfen.

Unter den vermeintlichen Schäden und Gebrechen der heutigen Türkei nimmt
die Vielweiberei und die verkehrten Vorstellungen, die sich an das Harem¬
wesen knüpfen, die erste Stelle ein. Der Koran stellt die Monogamie als das
Natürliche hin und erlaubt im Grunde nur dem Sultan, eine Ausnahme zu
machen; ihm sind vier Weiber gestattet, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß
auch diese Freiheit erst nachträglicher Zusatz war, ebenso wie die späteren Ein¬
schaltungen des Koran, nach welchen sich der Prophet infolge angeblicher Offen¬
barungen auch diese Vierzahl wiederum zu überschreiten gestattete. In Wirk¬
lichkeit war nun allerdings die Polygamie unter den Türken der früheren Zeit
eine ziemlich häufige Erscheinung geworden, aber doch nur in den Kreisen der
Vornehmen und Mächtigen; in den unteren Schichten wird sie stets nur sehr
Vereinzelt vorgekommen sein. Jetzt ist die Monogamie, in Konstantinopel wenig¬
stens, mit alleiniger Ausnahme des Sultans, durchaus von der Sitte gefabelt:
keiner der Großwürdenträger hat mehr als eine Frau, und „Harem" bedeutet
nichts Anderes als die von der Männcrwohnung getrennte Wohnung der Frau
vom Hause, mit dem Zubehör von Dienerinnen und Sclavinnen, welche nach
orientalischer Sitte zum Haushalt der Frauen in ebenso großer Zahl gehören,
wie Diener und Sclaven zum Haushalt des Herrn.

Auf die gesellschaftliche Stellung der Türkinnen sowie auf die Symptome
der Regeneration im Volke kommen wir ausführlicher zurück.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0276" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190435"/>
          <p xml:id="ID_949"> Im Allgemeinen also ist der Bildungszustand des türkischen Volkes keines¬<lb/>
wegs so niedrig, als man gewöhnlich einzunehmen geneigt ist. Er ist in den<lb/>
untern Schichten und im Ganzen ein sehr einfacher, aber in dieser Einfach¬<lb/>
heit wenigstens ein allgemeiner. &#x2014; Wenn man es trotzdem erlebt, daß der<lb/>
gewöhnliche Türke Prussia und Russia ziemlich häusig verwechselt, den König<lb/>
von Prussia als Satrapen der Czaren betrachtet, ihm Oestreich und Deutsch¬<lb/>
land gleichbedeutend sind, oder Deutschland ihm nur aus &#x2014;4 statt 34 Vater¬<lb/>
ländern besteht, so sind das Irrthümer, deren Beseitigung theilweise im Abend¬<lb/>
lande selbst von zu kurzem Datum ist. um dem fernen Volke, dessen intimere<lb/>
Verhältnisse uns so wenig kümmern, hoch angerechnet werden zu dürfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_950"> Unter den vermeintlichen Schäden und Gebrechen der heutigen Türkei nimmt<lb/>
die Vielweiberei und die verkehrten Vorstellungen, die sich an das Harem¬<lb/>
wesen knüpfen, die erste Stelle ein. Der Koran stellt die Monogamie als das<lb/>
Natürliche hin und erlaubt im Grunde nur dem Sultan, eine Ausnahme zu<lb/>
machen; ihm sind vier Weiber gestattet, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß<lb/>
auch diese Freiheit erst nachträglicher Zusatz war, ebenso wie die späteren Ein¬<lb/>
schaltungen des Koran, nach welchen sich der Prophet infolge angeblicher Offen¬<lb/>
barungen auch diese Vierzahl wiederum zu überschreiten gestattete. In Wirk¬<lb/>
lichkeit war nun allerdings die Polygamie unter den Türken der früheren Zeit<lb/>
eine ziemlich häufige Erscheinung geworden, aber doch nur in den Kreisen der<lb/>
Vornehmen und Mächtigen; in den unteren Schichten wird sie stets nur sehr<lb/>
Vereinzelt vorgekommen sein. Jetzt ist die Monogamie, in Konstantinopel wenig¬<lb/>
stens, mit alleiniger Ausnahme des Sultans, durchaus von der Sitte gefabelt:<lb/>
keiner der Großwürdenträger hat mehr als eine Frau, und &#x201E;Harem" bedeutet<lb/>
nichts Anderes als die von der Männcrwohnung getrennte Wohnung der Frau<lb/>
vom Hause, mit dem Zubehör von Dienerinnen und Sclavinnen, welche nach<lb/>
orientalischer Sitte zum Haushalt der Frauen in ebenso großer Zahl gehören,<lb/>
wie Diener und Sclaven zum Haushalt des Herrn.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_951"> Auf die gesellschaftliche Stellung der Türkinnen sowie auf die Symptome<lb/>
der Regeneration im Volke kommen wir ausführlicher zurück.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0276] Im Allgemeinen also ist der Bildungszustand des türkischen Volkes keines¬ wegs so niedrig, als man gewöhnlich einzunehmen geneigt ist. Er ist in den untern Schichten und im Ganzen ein sehr einfacher, aber in dieser Einfach¬ heit wenigstens ein allgemeiner. — Wenn man es trotzdem erlebt, daß der gewöhnliche Türke Prussia und Russia ziemlich häusig verwechselt, den König von Prussia als Satrapen der Czaren betrachtet, ihm Oestreich und Deutsch¬ land gleichbedeutend sind, oder Deutschland ihm nur aus —4 statt 34 Vater¬ ländern besteht, so sind das Irrthümer, deren Beseitigung theilweise im Abend¬ lande selbst von zu kurzem Datum ist. um dem fernen Volke, dessen intimere Verhältnisse uns so wenig kümmern, hoch angerechnet werden zu dürfen. Unter den vermeintlichen Schäden und Gebrechen der heutigen Türkei nimmt die Vielweiberei und die verkehrten Vorstellungen, die sich an das Harem¬ wesen knüpfen, die erste Stelle ein. Der Koran stellt die Monogamie als das Natürliche hin und erlaubt im Grunde nur dem Sultan, eine Ausnahme zu machen; ihm sind vier Weiber gestattet, ja es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch diese Freiheit erst nachträglicher Zusatz war, ebenso wie die späteren Ein¬ schaltungen des Koran, nach welchen sich der Prophet infolge angeblicher Offen¬ barungen auch diese Vierzahl wiederum zu überschreiten gestattete. In Wirk¬ lichkeit war nun allerdings die Polygamie unter den Türken der früheren Zeit eine ziemlich häufige Erscheinung geworden, aber doch nur in den Kreisen der Vornehmen und Mächtigen; in den unteren Schichten wird sie stets nur sehr Vereinzelt vorgekommen sein. Jetzt ist die Monogamie, in Konstantinopel wenig¬ stens, mit alleiniger Ausnahme des Sultans, durchaus von der Sitte gefabelt: keiner der Großwürdenträger hat mehr als eine Frau, und „Harem" bedeutet nichts Anderes als die von der Männcrwohnung getrennte Wohnung der Frau vom Hause, mit dem Zubehör von Dienerinnen und Sclavinnen, welche nach orientalischer Sitte zum Haushalt der Frauen in ebenso großer Zahl gehören, wie Diener und Sclaven zum Haushalt des Herrn. Auf die gesellschaftliche Stellung der Türkinnen sowie auf die Symptome der Regeneration im Volke kommen wir ausführlicher zurück.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/276
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/276>, abgerufen am 22.12.2024.