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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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aber Jahr steht unter den Go-ethekennern in erster Reihe. Den Sammlern und
Scholiasten will er in seiner Zuschrift an Freund Hirzel nur beigezählt
werden, aber die "stille Gemeinde" weiß längst, daß Jahr seinen redlichen Theil
dazu beigetragen hat, daß wir durch klare Einsicht in das Factische auch die
Kunst des Dichters, den übeilieferten Stoff zu einem Kunstwerke zu gestalten,
immer mehr, bewundern lernen.

Durch die gesammelten biographischen Aufsätze werden auch die Schilderungen
L. Richters und Danzels in weiteren Kreisen, als es bis jetzt der Fall war,
bekannt werde". Das freut uns aus einem doppelten Grunde. Die eingehende
Erzählung von Richters Leben und Wirken zeigt uns einen kerngesunden Punkt
in unserem modernen Kunstleben, hilft mannigfache Vorurtheile zerstreuen und
die richtige Einsicht, was den bildenden Künsten in der Gegenwart Noth thut,
verbreiten. Und daß die Erinnerung an Danzels Dasein in freundlichen Zügen
festgehalten wird, gönnen wir dem armen, vorzeitig gestorbenen Mann von
Herzen. -- Aber beide Aufsätze eignen sich auch vortrefflich, um unsern Autor
lieben zu lernen. Wer das rechte Verständniß und den scharfen Blick für Richters
anspruchslose Gestalten sich bewahrt hat, wer so inniglich "Heimchen weine nicht"
zu interpretiren versteht, wer die sittliche Bedeutung der. Richterschen Kunst so
genau erfaßt hat und wer so theilnehmend und herzlich über den beklagens-
werthen leipziger Gelehrten schreiben kann, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten,
ohne durch Sentimentalität zu reizen, das Gefühl der Leser für Danzels Schicksal
erwärmt, der ist nicht blos ein tüchtiger Gelehrter und scharfer Denker, sondern
auch ein trefflicher Mensch, den achten wir nicht allein, sondern lernen ihn
auch lieben.

Den Schluß der musikalischen Aufsätze hat Jahr Beethovens Werken ge.
widmet. Wer den Aufsatz liest, wird gewiß sehnsüchtiges Verlangen haben nach
dem lange vorbereiteten großen Werke über Beethoven, sich selbst aber corrigiren,
oder wenn er es nicht thut, von einem andern Freunde Jahns corrigirt werden.
Auch die längst versprochene Geschichte der antiken Kunst wird mit der gleichen
Sehnsucht erwartet. Diese beiden Bücher ist Otto Jahr sich selbst und der
Welt noch schuldig.




aber Jahr steht unter den Go-ethekennern in erster Reihe. Den Sammlern und
Scholiasten will er in seiner Zuschrift an Freund Hirzel nur beigezählt
werden, aber die „stille Gemeinde" weiß längst, daß Jahr seinen redlichen Theil
dazu beigetragen hat, daß wir durch klare Einsicht in das Factische auch die
Kunst des Dichters, den übeilieferten Stoff zu einem Kunstwerke zu gestalten,
immer mehr, bewundern lernen.

Durch die gesammelten biographischen Aufsätze werden auch die Schilderungen
L. Richters und Danzels in weiteren Kreisen, als es bis jetzt der Fall war,
bekannt werde». Das freut uns aus einem doppelten Grunde. Die eingehende
Erzählung von Richters Leben und Wirken zeigt uns einen kerngesunden Punkt
in unserem modernen Kunstleben, hilft mannigfache Vorurtheile zerstreuen und
die richtige Einsicht, was den bildenden Künsten in der Gegenwart Noth thut,
verbreiten. Und daß die Erinnerung an Danzels Dasein in freundlichen Zügen
festgehalten wird, gönnen wir dem armen, vorzeitig gestorbenen Mann von
Herzen. — Aber beide Aufsätze eignen sich auch vortrefflich, um unsern Autor
lieben zu lernen. Wer das rechte Verständniß und den scharfen Blick für Richters
anspruchslose Gestalten sich bewahrt hat, wer so inniglich „Heimchen weine nicht"
zu interpretiren versteht, wer die sittliche Bedeutung der. Richterschen Kunst so
genau erfaßt hat und wer so theilnehmend und herzlich über den beklagens-
werthen leipziger Gelehrten schreiben kann, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten,
ohne durch Sentimentalität zu reizen, das Gefühl der Leser für Danzels Schicksal
erwärmt, der ist nicht blos ein tüchtiger Gelehrter und scharfer Denker, sondern
auch ein trefflicher Mensch, den achten wir nicht allein, sondern lernen ihn
auch lieben.

Den Schluß der musikalischen Aufsätze hat Jahr Beethovens Werken ge.
widmet. Wer den Aufsatz liest, wird gewiß sehnsüchtiges Verlangen haben nach
dem lange vorbereiteten großen Werke über Beethoven, sich selbst aber corrigiren,
oder wenn er es nicht thut, von einem andern Freunde Jahns corrigirt werden.
Auch die längst versprochene Geschichte der antiken Kunst wird mit der gleichen
Sehnsucht erwartet. Diese beiden Bücher ist Otto Jahr sich selbst und der
Welt noch schuldig.




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[0546] aber Jahr steht unter den Go-ethekennern in erster Reihe. Den Sammlern und Scholiasten will er in seiner Zuschrift an Freund Hirzel nur beigezählt werden, aber die „stille Gemeinde" weiß längst, daß Jahr seinen redlichen Theil dazu beigetragen hat, daß wir durch klare Einsicht in das Factische auch die Kunst des Dichters, den übeilieferten Stoff zu einem Kunstwerke zu gestalten, immer mehr, bewundern lernen. Durch die gesammelten biographischen Aufsätze werden auch die Schilderungen L. Richters und Danzels in weiteren Kreisen, als es bis jetzt der Fall war, bekannt werde». Das freut uns aus einem doppelten Grunde. Die eingehende Erzählung von Richters Leben und Wirken zeigt uns einen kerngesunden Punkt in unserem modernen Kunstleben, hilft mannigfache Vorurtheile zerstreuen und die richtige Einsicht, was den bildenden Künsten in der Gegenwart Noth thut, verbreiten. Und daß die Erinnerung an Danzels Dasein in freundlichen Zügen festgehalten wird, gönnen wir dem armen, vorzeitig gestorbenen Mann von Herzen. — Aber beide Aufsätze eignen sich auch vortrefflich, um unsern Autor lieben zu lernen. Wer das rechte Verständniß und den scharfen Blick für Richters anspruchslose Gestalten sich bewahrt hat, wer so inniglich „Heimchen weine nicht" zu interpretiren versteht, wer die sittliche Bedeutung der. Richterschen Kunst so genau erfaßt hat und wer so theilnehmend und herzlich über den beklagens- werthen leipziger Gelehrten schreiben kann, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten, ohne durch Sentimentalität zu reizen, das Gefühl der Leser für Danzels Schicksal erwärmt, der ist nicht blos ein tüchtiger Gelehrter und scharfer Denker, sondern auch ein trefflicher Mensch, den achten wir nicht allein, sondern lernen ihn auch lieben. Den Schluß der musikalischen Aufsätze hat Jahr Beethovens Werken ge. widmet. Wer den Aufsatz liest, wird gewiß sehnsüchtiges Verlangen haben nach dem lange vorbereiteten großen Werke über Beethoven, sich selbst aber corrigiren, oder wenn er es nicht thut, von einem andern Freunde Jahns corrigirt werden. Auch die längst versprochene Geschichte der antiken Kunst wird mit der gleichen Sehnsucht erwartet. Diese beiden Bücher ist Otto Jahr sich selbst und der Welt noch schuldig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/546>, abgerufen am 04.07.2024.