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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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sich Diderot gegen den Todten nach Erscheinen der "Confessioiis" erlaubte, zeigt,
daß'er sich in dieser Sache nicht völlig rein fühlte. Rosenkranz ist hier wie
an einzelnen anderen Stellen merklich zum übereifriger Advocaten Diderots
geworden; aber welchem Biographen, der in die Seele eines bedeutenden
Mannes mit liebevollem Verständniß einzudringen sucht, sollte es nicht hin und
wieder so gehen? Und wenn unsere Ansicht über Diderot in dieser und in
manchen anderen Fragen abweicht, so haben wir es meist eben Rosenkranz zu
danken, daß er uns durch reichste Mittheilung des Thatbestandes ermöglicht hat,
unsere Rüstung aus seinem eigenen Arsenal zu vervollständigen. Denn im
Gegensatz zu der übertrieben zarten Sorge für das populäre Urtheil, das neu¬
lich einen hochgeschätzten Historiker bestimmte, von Veröffentlichung der ihm zur
Durchsicht vorgelegten Briefe einer geschichtlichen Persönlichkeit mit den Worten
abzurathen: "Sie passen nicht zu unserem Bilde des Mannes", -- hat uns
Rosenkranz auch die widerwärtigsten Flecken im Leben, die schmuzigen Conse-
quenzen im System seines Helden ohne Scheu aufgedeckt und blendende, gesät)"
liebe Sophismen desselben sofort mit dem Geschick und der Klarheit eines ge¬
wiegten Philosophen auf Schritt und .Tritt entlarvt. Aufs glücklichste hat er
übrigens den öffentlichen Diderot mit dem privaten, der uns theils in ver¬
traulicher Correspondenz. theils in Schriften, die er nicht für den Druck, sondern
nur für sich, höchstens für die nächsten Freunde schrieb, jetzt vorliegt, in gene¬
tischer Darstellung zu einem übersichtlichen Ganzen geordnet.

Die Blüthe des Werks aber ist das erschütternde Culturbild, das uns von
den socialen Zuständen der französischen Hauptstadt aufgerollt wird. Aus¬
genommen aus dem schärfsten Focus, dem Gesellschafts- und Familienleben der be¬
deutendsten Männer, wird uns ein Kreis vor Augen geführt, innerhalb dessen die
Frauen für und wider den Atheismus debattiren und eine wundersame Moral
des Lasters, die unverbrüchliche Treue des Ehebrechers zur wahlverwandten
Ehebrecherin sich festgesetzt hat; ein irdisches PseudoHimmelreich mitten unter den
Vorboten der großen herannahenden Umwälzung, die freilich nicht freundlich
und beseligend, wie jene Geister sie erwarteten, sondern mit blutigen Schrecken
ihre Bahn brechen sollte. --

Dem weitern äußern Lebensgange Diderots, von dem wir hier absehen
müssen, hat Rosenkranz größte Sorgfalt und Genauigkeit gewidmet. Wie viel¬
fach in dieser Beziehung selbst unsere besten Aushilfswerke noch Mängel zeigen,
möge das eine Beispiel erläutern, daß in Brockhaus Konversationslexikon die
Kaufsumme der Bibliothek Diderots auf 'so0,000 Livres. bei Pierer auf 50,000
Livres und 3,000 Livres Rente angegeben wird, während Rosenkranz uns
lehrt. daß Diderot 16.000 Livres für die Bibliothek und als Bibliothekar eine
Rente von 1,000 Livres, die man ihm auf fünfzig Jahre vorausbezahlte, er¬
halten hat.


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sich Diderot gegen den Todten nach Erscheinen der „Confessioiis" erlaubte, zeigt,
daß'er sich in dieser Sache nicht völlig rein fühlte. Rosenkranz ist hier wie
an einzelnen anderen Stellen merklich zum übereifriger Advocaten Diderots
geworden; aber welchem Biographen, der in die Seele eines bedeutenden
Mannes mit liebevollem Verständniß einzudringen sucht, sollte es nicht hin und
wieder so gehen? Und wenn unsere Ansicht über Diderot in dieser und in
manchen anderen Fragen abweicht, so haben wir es meist eben Rosenkranz zu
danken, daß er uns durch reichste Mittheilung des Thatbestandes ermöglicht hat,
unsere Rüstung aus seinem eigenen Arsenal zu vervollständigen. Denn im
Gegensatz zu der übertrieben zarten Sorge für das populäre Urtheil, das neu¬
lich einen hochgeschätzten Historiker bestimmte, von Veröffentlichung der ihm zur
Durchsicht vorgelegten Briefe einer geschichtlichen Persönlichkeit mit den Worten
abzurathen: „Sie passen nicht zu unserem Bilde des Mannes", — hat uns
Rosenkranz auch die widerwärtigsten Flecken im Leben, die schmuzigen Conse-
quenzen im System seines Helden ohne Scheu aufgedeckt und blendende, gesät)»
liebe Sophismen desselben sofort mit dem Geschick und der Klarheit eines ge¬
wiegten Philosophen auf Schritt und .Tritt entlarvt. Aufs glücklichste hat er
übrigens den öffentlichen Diderot mit dem privaten, der uns theils in ver¬
traulicher Correspondenz. theils in Schriften, die er nicht für den Druck, sondern
nur für sich, höchstens für die nächsten Freunde schrieb, jetzt vorliegt, in gene¬
tischer Darstellung zu einem übersichtlichen Ganzen geordnet.

Die Blüthe des Werks aber ist das erschütternde Culturbild, das uns von
den socialen Zuständen der französischen Hauptstadt aufgerollt wird. Aus¬
genommen aus dem schärfsten Focus, dem Gesellschafts- und Familienleben der be¬
deutendsten Männer, wird uns ein Kreis vor Augen geführt, innerhalb dessen die
Frauen für und wider den Atheismus debattiren und eine wundersame Moral
des Lasters, die unverbrüchliche Treue des Ehebrechers zur wahlverwandten
Ehebrecherin sich festgesetzt hat; ein irdisches PseudoHimmelreich mitten unter den
Vorboten der großen herannahenden Umwälzung, die freilich nicht freundlich
und beseligend, wie jene Geister sie erwarteten, sondern mit blutigen Schrecken
ihre Bahn brechen sollte. —

Dem weitern äußern Lebensgange Diderots, von dem wir hier absehen
müssen, hat Rosenkranz größte Sorgfalt und Genauigkeit gewidmet. Wie viel¬
fach in dieser Beziehung selbst unsere besten Aushilfswerke noch Mängel zeigen,
möge das eine Beispiel erläutern, daß in Brockhaus Konversationslexikon die
Kaufsumme der Bibliothek Diderots auf 'so0,000 Livres. bei Pierer auf 50,000
Livres und 3,000 Livres Rente angegeben wird, während Rosenkranz uns
lehrt. daß Diderot 16.000 Livres für die Bibliothek und als Bibliothekar eine
Rente von 1,000 Livres, die man ihm auf fünfzig Jahre vorausbezahlte, er¬
halten hat.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/541>, abgerufen am 30.06.2024.