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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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liegende Werk ganz besonders dazu angethan, diese dreifache Wirkung zu be¬
währen. Wem daran gelegen ist. in die tiefsten Abgründe der Menschenseele
ernsten und milde" Sinnes hinabzusteigen, wer die Zeichen einer Zeit, die mit
der denkwürdigsten aller Revolutionen schwanger ging, in ihrem vorbildlichen
Charakter für alle späteren Zeiten klarer deuten zu lernen wünscht, der wird
hier reiche Nahrung finden. Aber freilich auch der bornirte Fanatiker wird
reiches Material zur Bestärkung seiner Verdammungssucht, der Libertiner die
Vertheidigung der unsittlichsten Verhältnisse, sofern dieselbe der Entfaltung eines
bedeutenden Geistes zur Folie gedient, aus dem Buche herauslesen. Und die
stumpfe Masse wild an der seinen Darstellung innerer Kämpfe und Entwicke¬
lungen im Einzelnen wie in der großen Culturgeschichte gefühllos vorübergehen
und sich höchstens nach handfesten Excerptvren des dicken Buches umsehen, die
denn auch nicht auf sich warten lassen werden.

Wie Treffliches Rosenkranz geleistet, kann nur der völlig ermessen, der in
die bunte ungeordnete Masse des Materials, das vielfach noch kritischen Be¬
denken unterliegt, selbst einzudringen versucht hat. Und nun liegt es in der
Natur einer so proteusartigen Erscheinung, wie sie jener merkwürdige Franzose
darbietet, daß man ihr eigenstes Wesen oft nicht erfassen, sondern nur um¬
schreiben kann. Wenn das selbst der verwandte Genius eines Goethe mit in¬
stinktiver Intuition empfand, mit welchen Schwierigkeiten mußte der Philosoph,
der eindringende Analyse dieses Charakters unternahm, zu ringen haben! Aber
Rosenkranz hat seine Absicht, uns ein volles, deutliches Brlb zu geben, wirklich
erreicht und jede neue Darstellung Diderots wird von dieser ausgehen, jede
Geschichte seiner Zeit ans diese zurückgreife" müssen. Die Fülle der nun end¬
lich festgestellten Thatsachen, der neuen Combinationen und Resultate, die das
Buch darbietet, auch nur in gedrängtester Uebersicht zu registriren, würde den
Raum dieser Blätter weit überschreiten. Begnügen wir uns, auf einige derselben
hinzuweisen.

Der Vers, zeigt uns zunächst den ehrwürdigen Stamm, dem dieser wilde,
aber kraftvolle Zweig entsprossen war. Der Vater Diderots, so mannhaft, ver¬
ständig und bieder, daß ma" "überall wo er uns in der Geschichte des Sohnes
begegnet, ihm um den Hals fallen möchte"; der Bruder, ein Pciester, der sein
ganzes Herz der Kirche, sein ganzes Gut den Armen widmet; eine Schwester,
die in treuester Aufopferung die Liebe zu beiden, durch ihre verschiedenen Rich¬
tungen getrennten Brüder festhält, lauter charaktervolle Menschen voll edler Be¬
geisterung für das Gute und klarer Einsicht für alles, was sie thun, -- aus
dieser Familie erwuchs Diderot, und wjF er das Gefühl der Pietät für sie nie
verloren hat, so ziehen sich die sittlichen Grundsätze, die er in derselben ein¬
gesogen, immer erkennbar durch sein Leben, als eine Macht, die bald in
naiver, bald in bewußter Weise gegen die Extreme reagirt, zu denen die maßlose


liegende Werk ganz besonders dazu angethan, diese dreifache Wirkung zu be¬
währen. Wem daran gelegen ist. in die tiefsten Abgründe der Menschenseele
ernsten und milde» Sinnes hinabzusteigen, wer die Zeichen einer Zeit, die mit
der denkwürdigsten aller Revolutionen schwanger ging, in ihrem vorbildlichen
Charakter für alle späteren Zeiten klarer deuten zu lernen wünscht, der wird
hier reiche Nahrung finden. Aber freilich auch der bornirte Fanatiker wird
reiches Material zur Bestärkung seiner Verdammungssucht, der Libertiner die
Vertheidigung der unsittlichsten Verhältnisse, sofern dieselbe der Entfaltung eines
bedeutenden Geistes zur Folie gedient, aus dem Buche herauslesen. Und die
stumpfe Masse wild an der seinen Darstellung innerer Kämpfe und Entwicke¬
lungen im Einzelnen wie in der großen Culturgeschichte gefühllos vorübergehen
und sich höchstens nach handfesten Excerptvren des dicken Buches umsehen, die
denn auch nicht auf sich warten lassen werden.

Wie Treffliches Rosenkranz geleistet, kann nur der völlig ermessen, der in
die bunte ungeordnete Masse des Materials, das vielfach noch kritischen Be¬
denken unterliegt, selbst einzudringen versucht hat. Und nun liegt es in der
Natur einer so proteusartigen Erscheinung, wie sie jener merkwürdige Franzose
darbietet, daß man ihr eigenstes Wesen oft nicht erfassen, sondern nur um¬
schreiben kann. Wenn das selbst der verwandte Genius eines Goethe mit in¬
stinktiver Intuition empfand, mit welchen Schwierigkeiten mußte der Philosoph,
der eindringende Analyse dieses Charakters unternahm, zu ringen haben! Aber
Rosenkranz hat seine Absicht, uns ein volles, deutliches Brlb zu geben, wirklich
erreicht und jede neue Darstellung Diderots wird von dieser ausgehen, jede
Geschichte seiner Zeit ans diese zurückgreife» müssen. Die Fülle der nun end¬
lich festgestellten Thatsachen, der neuen Combinationen und Resultate, die das
Buch darbietet, auch nur in gedrängtester Uebersicht zu registriren, würde den
Raum dieser Blätter weit überschreiten. Begnügen wir uns, auf einige derselben
hinzuweisen.

Der Vers, zeigt uns zunächst den ehrwürdigen Stamm, dem dieser wilde,
aber kraftvolle Zweig entsprossen war. Der Vater Diderots, so mannhaft, ver¬
ständig und bieder, daß ma» „überall wo er uns in der Geschichte des Sohnes
begegnet, ihm um den Hals fallen möchte"; der Bruder, ein Pciester, der sein
ganzes Herz der Kirche, sein ganzes Gut den Armen widmet; eine Schwester,
die in treuester Aufopferung die Liebe zu beiden, durch ihre verschiedenen Rich¬
tungen getrennten Brüder festhält, lauter charaktervolle Menschen voll edler Be¬
geisterung für das Gute und klarer Einsicht für alles, was sie thun, — aus
dieser Familie erwuchs Diderot, und wjF er das Gefühl der Pietät für sie nie
verloren hat, so ziehen sich die sittlichen Grundsätze, die er in derselben ein¬
gesogen, immer erkennbar durch sein Leben, als eine Macht, die bald in
naiver, bald in bewußter Weise gegen die Extreme reagirt, zu denen die maßlose


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/537>, abgerufen am 04.07.2024.