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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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cipien, nach welchen bei denselben verfahren wird u. s. w., können wir hier nicht
näher eingehen, -- für unseren Zweck genügt es, daß jener Ordnung gemäß
jeder russische Bauer einen Anspruch an den Grund und Boden seiner Gemar¬
kung hat, daß der Unterschied zwischen selbständigen bäuerlichen Wirthschafts¬
unternehmern und Knechten, der sich im gesammten übrigen Europa vorfindet,
in Rußland unbekannt ist und daß es daselbst auf dem flachen Lande in der
That keine "landlosen Leute" (wir führen diesen in Rußland vielbeliebten tech¬
nischen Ausdruck "zxxressis vsrbis an) giebt, ja daß auch der Bauer, der in
die Stadt wandert, um daselbst eine bürgerliche Nahrung zu treiben, von der
Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. erforderlichen Falls in seine Heimath zurück¬
zukehren und bei der nächsten Landvertheilung ein Grundstück zu verlangen, das
ihm die Möglichkeit bietet, eine ebenso auskömmliche Existenz zu finden, als die
seiner zu Hause gebliebenen Dorfgenossen ist.

An den Eigenthümlichkeiten der russischen Dorfgemeinde ist durch die Auf¬
hebung der Leibeigenschaft nichts geändert worden. Das Emancipationsgesctz
vom 19. Februar 1861 hat es nur mit den Beziehungen der Bauern zum Herrn
zu thun: entweder kauft die Gemeinde dem Herrn das Land zu einem normirten
Preise ab; oder ihre Glieder zahlen ihm Pacht, oder sie leisten ihm ein gesetz¬
lich normirtes Maß von Arbeiten. -- In diesem Institut des Gemeindebesitzes,
dem unverkennbaren Ueberbleibsel eines halbnomadischen Culturzustandes, der
im übrigen Europa seit Jahrhunderten überwunden ist und nur unter primären
Verhältnissen und um den Preis einer ewigen Kindheit der Landwirthschaft be¬
stehen kann, sahen Slawophilen und Jungrusscn eine tiefsinnige, vielverheißende
Offenbarung des russischen Volksgeistes, dessen glücklicher Unmittelbarkeit es be-
schieden gewesen sei, die Lösung des großen Problems zu bewahren, nach dem
die Weisen des superkluger Westens vergeblich geforscht und gerungen hatten.

Es versteht sich von selbst, daß die Doctrinen, die an dieses Institut
anknüpften, während der Regierung des Kaisers Nikolaus auf einzelne Kreise
beschränkt blieben und auf alle öffentlichen Kundgebungen Verzicht leisten mühten.
Die Slawophilen besaßen zwar schon in den dreißiger Jahren eigene Organe,
mußten bei Entwickelung ihrer Ideen aber die höchste Vorsicht beobachten und jeden
Schein von Opposition gegen die Regierung vermeiden. Sie deckten sich nach
dieser Seite in der Regel mit allgemeinen patriotischen Phrasen und einem
ostensibeln kirchlichen Eifer, indem sie gleichzeitig ihren Gegensatz gegen den
glaubenslosen westeuropäischen Liberalismus möglichst betonten und nur unter
der Blume andeuteten, daß es auch Berührungspunkte zwischen diesem und den
Forderungen ihrer Partei gebe. Die jungrussische Partei war dagegen zu
Völligem Schweigen verurtheilt. Ihre Forderungen und Wünsche gewannen blos
in einer geheimen, aber ziemlich verbreiteten handschriftlichen Literatur, die bis
zur Mitte der fünfziger Jahre im Schwange war, Gestalt und Ausdruck. An-


cipien, nach welchen bei denselben verfahren wird u. s. w., können wir hier nicht
näher eingehen, — für unseren Zweck genügt es, daß jener Ordnung gemäß
jeder russische Bauer einen Anspruch an den Grund und Boden seiner Gemar¬
kung hat, daß der Unterschied zwischen selbständigen bäuerlichen Wirthschafts¬
unternehmern und Knechten, der sich im gesammten übrigen Europa vorfindet,
in Rußland unbekannt ist und daß es daselbst auf dem flachen Lande in der
That keine „landlosen Leute" (wir führen diesen in Rußland vielbeliebten tech¬
nischen Ausdruck «zxxressis vsrbis an) giebt, ja daß auch der Bauer, der in
die Stadt wandert, um daselbst eine bürgerliche Nahrung zu treiben, von der
Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. erforderlichen Falls in seine Heimath zurück¬
zukehren und bei der nächsten Landvertheilung ein Grundstück zu verlangen, das
ihm die Möglichkeit bietet, eine ebenso auskömmliche Existenz zu finden, als die
seiner zu Hause gebliebenen Dorfgenossen ist.

An den Eigenthümlichkeiten der russischen Dorfgemeinde ist durch die Auf¬
hebung der Leibeigenschaft nichts geändert worden. Das Emancipationsgesctz
vom 19. Februar 1861 hat es nur mit den Beziehungen der Bauern zum Herrn
zu thun: entweder kauft die Gemeinde dem Herrn das Land zu einem normirten
Preise ab; oder ihre Glieder zahlen ihm Pacht, oder sie leisten ihm ein gesetz¬
lich normirtes Maß von Arbeiten. — In diesem Institut des Gemeindebesitzes,
dem unverkennbaren Ueberbleibsel eines halbnomadischen Culturzustandes, der
im übrigen Europa seit Jahrhunderten überwunden ist und nur unter primären
Verhältnissen und um den Preis einer ewigen Kindheit der Landwirthschaft be¬
stehen kann, sahen Slawophilen und Jungrusscn eine tiefsinnige, vielverheißende
Offenbarung des russischen Volksgeistes, dessen glücklicher Unmittelbarkeit es be-
schieden gewesen sei, die Lösung des großen Problems zu bewahren, nach dem
die Weisen des superkluger Westens vergeblich geforscht und gerungen hatten.

Es versteht sich von selbst, daß die Doctrinen, die an dieses Institut
anknüpften, während der Regierung des Kaisers Nikolaus auf einzelne Kreise
beschränkt blieben und auf alle öffentlichen Kundgebungen Verzicht leisten mühten.
Die Slawophilen besaßen zwar schon in den dreißiger Jahren eigene Organe,
mußten bei Entwickelung ihrer Ideen aber die höchste Vorsicht beobachten und jeden
Schein von Opposition gegen die Regierung vermeiden. Sie deckten sich nach
dieser Seite in der Regel mit allgemeinen patriotischen Phrasen und einem
ostensibeln kirchlichen Eifer, indem sie gleichzeitig ihren Gegensatz gegen den
glaubenslosen westeuropäischen Liberalismus möglichst betonten und nur unter
der Blume andeuteten, daß es auch Berührungspunkte zwischen diesem und den
Forderungen ihrer Partei gebe. Die jungrussische Partei war dagegen zu
Völligem Schweigen verurtheilt. Ihre Forderungen und Wünsche gewannen blos
in einer geheimen, aber ziemlich verbreiteten handschriftlichen Literatur, die bis
zur Mitte der fünfziger Jahre im Schwange war, Gestalt und Ausdruck. An-


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[0310] cipien, nach welchen bei denselben verfahren wird u. s. w., können wir hier nicht näher eingehen, — für unseren Zweck genügt es, daß jener Ordnung gemäß jeder russische Bauer einen Anspruch an den Grund und Boden seiner Gemar¬ kung hat, daß der Unterschied zwischen selbständigen bäuerlichen Wirthschafts¬ unternehmern und Knechten, der sich im gesammten übrigen Europa vorfindet, in Rußland unbekannt ist und daß es daselbst auf dem flachen Lande in der That keine „landlosen Leute" (wir führen diesen in Rußland vielbeliebten tech¬ nischen Ausdruck «zxxressis vsrbis an) giebt, ja daß auch der Bauer, der in die Stadt wandert, um daselbst eine bürgerliche Nahrung zu treiben, von der Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist. erforderlichen Falls in seine Heimath zurück¬ zukehren und bei der nächsten Landvertheilung ein Grundstück zu verlangen, das ihm die Möglichkeit bietet, eine ebenso auskömmliche Existenz zu finden, als die seiner zu Hause gebliebenen Dorfgenossen ist. An den Eigenthümlichkeiten der russischen Dorfgemeinde ist durch die Auf¬ hebung der Leibeigenschaft nichts geändert worden. Das Emancipationsgesctz vom 19. Februar 1861 hat es nur mit den Beziehungen der Bauern zum Herrn zu thun: entweder kauft die Gemeinde dem Herrn das Land zu einem normirten Preise ab; oder ihre Glieder zahlen ihm Pacht, oder sie leisten ihm ein gesetz¬ lich normirtes Maß von Arbeiten. — In diesem Institut des Gemeindebesitzes, dem unverkennbaren Ueberbleibsel eines halbnomadischen Culturzustandes, der im übrigen Europa seit Jahrhunderten überwunden ist und nur unter primären Verhältnissen und um den Preis einer ewigen Kindheit der Landwirthschaft be¬ stehen kann, sahen Slawophilen und Jungrusscn eine tiefsinnige, vielverheißende Offenbarung des russischen Volksgeistes, dessen glücklicher Unmittelbarkeit es be- schieden gewesen sei, die Lösung des großen Problems zu bewahren, nach dem die Weisen des superkluger Westens vergeblich geforscht und gerungen hatten. Es versteht sich von selbst, daß die Doctrinen, die an dieses Institut anknüpften, während der Regierung des Kaisers Nikolaus auf einzelne Kreise beschränkt blieben und auf alle öffentlichen Kundgebungen Verzicht leisten mühten. Die Slawophilen besaßen zwar schon in den dreißiger Jahren eigene Organe, mußten bei Entwickelung ihrer Ideen aber die höchste Vorsicht beobachten und jeden Schein von Opposition gegen die Regierung vermeiden. Sie deckten sich nach dieser Seite in der Regel mit allgemeinen patriotischen Phrasen und einem ostensibeln kirchlichen Eifer, indem sie gleichzeitig ihren Gegensatz gegen den glaubenslosen westeuropäischen Liberalismus möglichst betonten und nur unter der Blume andeuteten, daß es auch Berührungspunkte zwischen diesem und den Forderungen ihrer Partei gebe. Die jungrussische Partei war dagegen zu Völligem Schweigen verurtheilt. Ihre Forderungen und Wünsche gewannen blos in einer geheimen, aber ziemlich verbreiteten handschriftlichen Literatur, die bis zur Mitte der fünfziger Jahre im Schwange war, Gestalt und Ausdruck. An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/310>, abgerufen am 04.07.2024.