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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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darum wirkt grade dieses wichtigste Moment staatlicher Einigung fast mehr cen-
trifugal als centripetal und bildet eine der Hauptschwierigkeiten beim östreichischen
Neubau.

Auch das Bewußtsein, Glied eines großen Staates zu sein, theilzunehmen
an dem historischen Glänze, der auf diesem Staate ruht, an der geachteten
Stellung, die seine Bürger in der Welt einnehmen, ein Bewußtsein, welches
die deutschen Elsässer zu guten französischen Bürgern macht, kann nach Kata¬
strophen. wie sie der östreichische Staat erlitten hat, ihm kaum als genügende
Grundlage seiner Existenz dienen. Es mag sich Wohl in Zeiten großer äußerer
Conflicte dieses staatliche Gefühl aufraffen zu gemeinschaftlichem Angriffe oder
zu gemeinschaftlicher Vertheidigung, aber für die Zeiten ruhiger Entwickelung
kann die Liebe zum östreichischen Gesammtstaat als solchem schwerlich als stark
genug angenommen werden, um darauf hin allein das neue Gemeinwesen auf¬
zubauen, sonst könnten wir das Schauspiel nicht erleben, das sich seit Jahren
vor unseren Augen abspielt, sonst wären an die östreichischen Staatsmänner die
Aufgaben nicht gestellt, an deren Lösung sie sich mit so wenig sichtbarem Erfolge
abmühen.

So dürfte denn in der Hauptsache nur die Function des Staates als
Schutzgemcinschaft zu prüfen übrig bleiben. Der Schutz, den der Staat dem
einzelnen Individuum in seinen Rechten und Interessen angedeihen läßt, ist
selbstverständlich ein starkes conservatives Moment, aber dennoch dürfte die
Furcht vor der Revolution, vor staatlichen Umwälzungen kaum mächtig genug sein,
um den Bestand des östreichischen Staates sicher zu stellen; die Revolution will
ja nicht den staatlichen Schutz beseitigen, sie will die staatlichen Verhältnisse
bessern, und der Zweifel, daß dies nicht gelinge" möchte, ist nicht allezeit über¬
wiegend. Es fragt sich, ob der östreichische Staat als solcher gewissen Inter¬
essen einen Schutz verleiht, den diese von anderen staatlichen Gestaltungen nicht
zu erwarten haben, ob insonderheit die vielen verschiedenen Völkerschaften Oest¬
reichs an der Erhaltung der östreichischen Monarchie das starke Interesse des
Schutzbedürfnisses befriedigt finden. Es mag vielleicht seltsam erscheinen, und
doch dürfte es der Wahrheit entsprechen, wenn diese Frage vorerst und vielleicht
nur für die Nationalität bejaht wird, welche sich am allerschwersten in den
östreichischen Staatskörper einfügen läßt, der ungarischen. Die Deutschen Oest¬
reichs mögen vielleicht in einem Zerfall des Kaiserstaats das. Zerrinnen eines
stolzen Traumes erblicken, die Kaiserstadt zumal mag den Gedanken unerträglich
finden, nicht mehr die Hauptstadt eines großen Reiches zu sein, und dennoch,
die deutsche Nationalität mag in der Wiedervereinigung mit dem Reiche gewiß
keine Gefahr, vielmehr neue Befruchtung und Sicherung erblicken. Ebenso mag
der Slave in Oestreich vielleicht zeitweilig es in seinem Interesse finden, den
Gesammtstaat zu stützen und als Gegengewicht gegen feindliche Tendenzen


darum wirkt grade dieses wichtigste Moment staatlicher Einigung fast mehr cen-
trifugal als centripetal und bildet eine der Hauptschwierigkeiten beim östreichischen
Neubau.

Auch das Bewußtsein, Glied eines großen Staates zu sein, theilzunehmen
an dem historischen Glänze, der auf diesem Staate ruht, an der geachteten
Stellung, die seine Bürger in der Welt einnehmen, ein Bewußtsein, welches
die deutschen Elsässer zu guten französischen Bürgern macht, kann nach Kata¬
strophen. wie sie der östreichische Staat erlitten hat, ihm kaum als genügende
Grundlage seiner Existenz dienen. Es mag sich Wohl in Zeiten großer äußerer
Conflicte dieses staatliche Gefühl aufraffen zu gemeinschaftlichem Angriffe oder
zu gemeinschaftlicher Vertheidigung, aber für die Zeiten ruhiger Entwickelung
kann die Liebe zum östreichischen Gesammtstaat als solchem schwerlich als stark
genug angenommen werden, um darauf hin allein das neue Gemeinwesen auf¬
zubauen, sonst könnten wir das Schauspiel nicht erleben, das sich seit Jahren
vor unseren Augen abspielt, sonst wären an die östreichischen Staatsmänner die
Aufgaben nicht gestellt, an deren Lösung sie sich mit so wenig sichtbarem Erfolge
abmühen.

So dürfte denn in der Hauptsache nur die Function des Staates als
Schutzgemcinschaft zu prüfen übrig bleiben. Der Schutz, den der Staat dem
einzelnen Individuum in seinen Rechten und Interessen angedeihen läßt, ist
selbstverständlich ein starkes conservatives Moment, aber dennoch dürfte die
Furcht vor der Revolution, vor staatlichen Umwälzungen kaum mächtig genug sein,
um den Bestand des östreichischen Staates sicher zu stellen; die Revolution will
ja nicht den staatlichen Schutz beseitigen, sie will die staatlichen Verhältnisse
bessern, und der Zweifel, daß dies nicht gelinge» möchte, ist nicht allezeit über¬
wiegend. Es fragt sich, ob der östreichische Staat als solcher gewissen Inter¬
essen einen Schutz verleiht, den diese von anderen staatlichen Gestaltungen nicht
zu erwarten haben, ob insonderheit die vielen verschiedenen Völkerschaften Oest¬
reichs an der Erhaltung der östreichischen Monarchie das starke Interesse des
Schutzbedürfnisses befriedigt finden. Es mag vielleicht seltsam erscheinen, und
doch dürfte es der Wahrheit entsprechen, wenn diese Frage vorerst und vielleicht
nur für die Nationalität bejaht wird, welche sich am allerschwersten in den
östreichischen Staatskörper einfügen läßt, der ungarischen. Die Deutschen Oest¬
reichs mögen vielleicht in einem Zerfall des Kaiserstaats das. Zerrinnen eines
stolzen Traumes erblicken, die Kaiserstadt zumal mag den Gedanken unerträglich
finden, nicht mehr die Hauptstadt eines großen Reiches zu sein, und dennoch,
die deutsche Nationalität mag in der Wiedervereinigung mit dem Reiche gewiß
keine Gefahr, vielmehr neue Befruchtung und Sicherung erblicken. Ebenso mag
der Slave in Oestreich vielleicht zeitweilig es in seinem Interesse finden, den
Gesammtstaat zu stützen und als Gegengewicht gegen feindliche Tendenzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/544>, abgerufen am 22.07.2024.