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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Oeffentlichkeit vorenthaltenen Originalschätze benutzen durfte, zumal an' einem
Gegenstand, an dem die Kritik so viel gut zu machen hatte, verlangen wir nach
unsern Philologischen Begriffen die scrupulöseste Genauigkeit. Nun muß es doch
auffallen, daß der Herausgeber den zweitwichtigsten Codex, den vaticanischen,
gar nicht im Original kennt, sondern nur in der Abschrift, die Michelangelo
der Jüngere davon gemacht hat. Nur für einzelne Fälle hat er durch einen
Dritten die Originalhandschrift consultiren lassen. Zwar versichert Guastu
ig. oorM ö esattigsima, aber er selbst muß doch beifügen, daß der Abschreiber
wenigstens im Punkt der Orthographie zuweilen der wünschenswerthen Treue
entbehre, und neuere Vergleichungen haben dargethan, daß auch sonst zuweilen
Ungenauigkeiten mit unterliefen. Ferner giebt der Herausgeber an, daß im
Ooäöx ^utograto nicht sämmtliche Gedichte von der Hand Michelangelos selbst
geschrieben seien, wie sie auch im tüoäex Val. nur "zum großen Theil" Auto-
graphe des Dichters sind. Da konnte man nun erwarten, daß bei den einzel¬
nen Gedichten angegeben wurde, ob sie in der Originalhandschrift. Michelangelos
vorlagen oder nicht. Auch Behandlung der Varianten, Anordnung der Gedichte
und Orthographie geben zu Ausstellungen Anlaß, wie dies in einer unnachsich¬
tiger Kritik Hermann Grimm (Ueber Künstler und Kunstwerke. 186S, S. 97 ff.)
ausgeführt hat.

Indessen, dies sind philologische Mängel, welche den sachlichen Werth der
neuen Ausgabe nicht wesentlich berühren. Wir sind berechtigt, die vorlie¬
gende Sammlung als authentisch zu betrachten. So schrieb Michelangelo die
Gedichte nieder oder wurden sie zu seinen Lebzeiten von den Freunden ver¬
breitet. Die nächste Frage ist: wie verhalten sich die echten Stücke zu dem über¬
lieferten Text, in wiefern wird durch sie unser Urtheil über den Dichter modi-
ficirt oder erweitert?

Michelangelo der Jüngere scheint keine Ahnung gehabt zu haben, daß je
die Originale ans Licht kommen und die Willkürlichkeit seines Verfahrens auf¬
decken würden. Zunächst mochte ihn die zuweilen sehr große Verschiedenheit der
Lesarten veranlassen, unter diesen auszuwählen und diejenigen zu bevorzugen,
welche den Gedanken am klarsten und verständlichsten wiedergaben. Dann fand
er eine große Zahl von Fragmenten; es reizte ihn. sie mit eigner Erfindung
zu ergänzen. Offenbar zu seiner großen Selbstbefriedigung. Denn es kam ihm
jetzt vor, als ob seine eigenen Perioden ungleich zierlicher und flüssiger seien,
als die des Großoheims. Er fand, daß die Gedichte überhaupt dem Geschmack
seines Zeitalters nicht recht zusagten. Sie waren zu dunkel, zu seltsam, er
glaubte es ohne Zweifel dem Ruhme seines Vorfahren schuldig zu sein, ihnen
die ursprüngliche Rauhheit und Sprödigkeit zu nehmen und sie mit dem Firniß
des Leeento zu überkleiden. So ging er denn frisch daran, ganze Verse und
Perioden, selbst den Sinn zu ändern. Wo ein dunkler Gedanke war, schlug er


Oeffentlichkeit vorenthaltenen Originalschätze benutzen durfte, zumal an' einem
Gegenstand, an dem die Kritik so viel gut zu machen hatte, verlangen wir nach
unsern Philologischen Begriffen die scrupulöseste Genauigkeit. Nun muß es doch
auffallen, daß der Herausgeber den zweitwichtigsten Codex, den vaticanischen,
gar nicht im Original kennt, sondern nur in der Abschrift, die Michelangelo
der Jüngere davon gemacht hat. Nur für einzelne Fälle hat er durch einen
Dritten die Originalhandschrift consultiren lassen. Zwar versichert Guastu
ig. oorM ö esattigsima, aber er selbst muß doch beifügen, daß der Abschreiber
wenigstens im Punkt der Orthographie zuweilen der wünschenswerthen Treue
entbehre, und neuere Vergleichungen haben dargethan, daß auch sonst zuweilen
Ungenauigkeiten mit unterliefen. Ferner giebt der Herausgeber an, daß im
Ooäöx ^utograto nicht sämmtliche Gedichte von der Hand Michelangelos selbst
geschrieben seien, wie sie auch im tüoäex Val. nur „zum großen Theil" Auto-
graphe des Dichters sind. Da konnte man nun erwarten, daß bei den einzel¬
nen Gedichten angegeben wurde, ob sie in der Originalhandschrift. Michelangelos
vorlagen oder nicht. Auch Behandlung der Varianten, Anordnung der Gedichte
und Orthographie geben zu Ausstellungen Anlaß, wie dies in einer unnachsich¬
tiger Kritik Hermann Grimm (Ueber Künstler und Kunstwerke. 186S, S. 97 ff.)
ausgeführt hat.

Indessen, dies sind philologische Mängel, welche den sachlichen Werth der
neuen Ausgabe nicht wesentlich berühren. Wir sind berechtigt, die vorlie¬
gende Sammlung als authentisch zu betrachten. So schrieb Michelangelo die
Gedichte nieder oder wurden sie zu seinen Lebzeiten von den Freunden ver¬
breitet. Die nächste Frage ist: wie verhalten sich die echten Stücke zu dem über¬
lieferten Text, in wiefern wird durch sie unser Urtheil über den Dichter modi-
ficirt oder erweitert?

Michelangelo der Jüngere scheint keine Ahnung gehabt zu haben, daß je
die Originale ans Licht kommen und die Willkürlichkeit seines Verfahrens auf¬
decken würden. Zunächst mochte ihn die zuweilen sehr große Verschiedenheit der
Lesarten veranlassen, unter diesen auszuwählen und diejenigen zu bevorzugen,
welche den Gedanken am klarsten und verständlichsten wiedergaben. Dann fand
er eine große Zahl von Fragmenten; es reizte ihn. sie mit eigner Erfindung
zu ergänzen. Offenbar zu seiner großen Selbstbefriedigung. Denn es kam ihm
jetzt vor, als ob seine eigenen Perioden ungleich zierlicher und flüssiger seien,
als die des Großoheims. Er fand, daß die Gedichte überhaupt dem Geschmack
seines Zeitalters nicht recht zusagten. Sie waren zu dunkel, zu seltsam, er
glaubte es ohne Zweifel dem Ruhme seines Vorfahren schuldig zu sein, ihnen
die ursprüngliche Rauhheit und Sprödigkeit zu nehmen und sie mit dem Firniß
des Leeento zu überkleiden. So ging er denn frisch daran, ganze Verse und
Perioden, selbst den Sinn zu ändern. Wo ein dunkler Gedanke war, schlug er


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[0041] Oeffentlichkeit vorenthaltenen Originalschätze benutzen durfte, zumal an' einem Gegenstand, an dem die Kritik so viel gut zu machen hatte, verlangen wir nach unsern Philologischen Begriffen die scrupulöseste Genauigkeit. Nun muß es doch auffallen, daß der Herausgeber den zweitwichtigsten Codex, den vaticanischen, gar nicht im Original kennt, sondern nur in der Abschrift, die Michelangelo der Jüngere davon gemacht hat. Nur für einzelne Fälle hat er durch einen Dritten die Originalhandschrift consultiren lassen. Zwar versichert Guastu ig. oorM ö esattigsima, aber er selbst muß doch beifügen, daß der Abschreiber wenigstens im Punkt der Orthographie zuweilen der wünschenswerthen Treue entbehre, und neuere Vergleichungen haben dargethan, daß auch sonst zuweilen Ungenauigkeiten mit unterliefen. Ferner giebt der Herausgeber an, daß im Ooäöx ^utograto nicht sämmtliche Gedichte von der Hand Michelangelos selbst geschrieben seien, wie sie auch im tüoäex Val. nur „zum großen Theil" Auto- graphe des Dichters sind. Da konnte man nun erwarten, daß bei den einzel¬ nen Gedichten angegeben wurde, ob sie in der Originalhandschrift. Michelangelos vorlagen oder nicht. Auch Behandlung der Varianten, Anordnung der Gedichte und Orthographie geben zu Ausstellungen Anlaß, wie dies in einer unnachsich¬ tiger Kritik Hermann Grimm (Ueber Künstler und Kunstwerke. 186S, S. 97 ff.) ausgeführt hat. Indessen, dies sind philologische Mängel, welche den sachlichen Werth der neuen Ausgabe nicht wesentlich berühren. Wir sind berechtigt, die vorlie¬ gende Sammlung als authentisch zu betrachten. So schrieb Michelangelo die Gedichte nieder oder wurden sie zu seinen Lebzeiten von den Freunden ver¬ breitet. Die nächste Frage ist: wie verhalten sich die echten Stücke zu dem über¬ lieferten Text, in wiefern wird durch sie unser Urtheil über den Dichter modi- ficirt oder erweitert? Michelangelo der Jüngere scheint keine Ahnung gehabt zu haben, daß je die Originale ans Licht kommen und die Willkürlichkeit seines Verfahrens auf¬ decken würden. Zunächst mochte ihn die zuweilen sehr große Verschiedenheit der Lesarten veranlassen, unter diesen auszuwählen und diejenigen zu bevorzugen, welche den Gedanken am klarsten und verständlichsten wiedergaben. Dann fand er eine große Zahl von Fragmenten; es reizte ihn. sie mit eigner Erfindung zu ergänzen. Offenbar zu seiner großen Selbstbefriedigung. Denn es kam ihm jetzt vor, als ob seine eigenen Perioden ungleich zierlicher und flüssiger seien, als die des Großoheims. Er fand, daß die Gedichte überhaupt dem Geschmack seines Zeitalters nicht recht zusagten. Sie waren zu dunkel, zu seltsam, er glaubte es ohne Zweifel dem Ruhme seines Vorfahren schuldig zu sein, ihnen die ursprüngliche Rauhheit und Sprödigkeit zu nehmen und sie mit dem Firniß des Leeento zu überkleiden. So ging er denn frisch daran, ganze Verse und Perioden, selbst den Sinn zu ändern. Wo ein dunkler Gedanke war, schlug er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/41>, abgerufen am 22.07.2024.