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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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diensten um die Stadt. Auf alle Fälle ist der geh. Commerzienrath von der
Heydt seit Anbeginn der Leiter der neuen Armenpflege gewesen und hat ihr
den lebendigen Odem eingehaucht. Es ist also wesentlich mit sein Werk, wenn
durch eine außerordentliche Vermehrung der Zahl der wirkenden Kräfte und die
dadurch allein mögliche Jndividiialifirung der Behandlung die Verhältnißziffer
der Unterstützten seit 1865 von 9V" auf 3 Procent der Bevölkerung gesunken
ist; und seine Schöpfung vor allem ist das stattliche, mit einem besondern Irren¬
haus verbundene städtische Krankenhaus, das man von Düsseldorf kommend auf
einer Anhöhe vor der Stadt sich erheben sieht. Schade nur, daß der aus¬
gezeichnete Arzt, der demselben zuerst vorstand, Virchows Freund und Strebcns-
genofse. Dr. Karl Pagenstecher, dieser Erweiterung und Erhöhung seines Be¬
rufs durch die aufreibenden Anstrengungen einer wuppertbalcr Praxis so frühe
wieder entrissen worden ist! Die elberfelder Armenpflege, die ihre Kraft so
rasch bewährt hat, ist alsbald von den Schwesterstädten Barmer und Crefeld
adoptirt worden. Was es in reinen Jndustrieplätzen wie diesen, wo die große
Mehrzahl der Bevölkerung von der Hand in den Mund lebt, mit der Last der
Armenpflege aus sich hat, zeigt ein Blick in ihren Gemeindehaushalt, der sich
regelmäßig um diesen wichtigen Posten dreht. Die Städte sind so jung, daß
keine Fülle alter Stiftungen, wie beispielsweise in Köln, der lebenden Genera¬
tion den größeren Theil der Last abnimmt. Sie brauchen dafür allerdings auch
nicht mit anzusehen, wie in ihrem Schoße aus den Hilfsmitteln gegen Armuth
die Armuth sich immer wieder neu gebiert; sie sind in ihrer Thätigkeit auf keine
Weise an den zum Unsinn gewordenen Willen Längstvermoderter gebunden. Aber
wenn sie sich nach Gefallen bewegen und die Armuth wirksam bekämpfen
können, so ist die Last für die Gegenwart in Wahrheit schwer. Anderswo
würde man unter ihr zu erliegen glauben. Sie und nichts Anderes ist die
Ursache, wenn die Gemeindeeinkommensteuer jetzt in Elberfeld und Barmer un¬
gefähr acht, in Crefeld sogar zwanzig Procent beträgt, so daß die öffentlichen
Abgaben, Staat und Kirche mitgerechnet, in jenen beiden Städten ein Achtel,
in der letztgenannten, Dank der letzten schlechten Seidenernte, ein volles Viertel
des reinen Einkommens verschlingen!

Es wird hiernach als kein Wunder erscheinen, wenn alle Rentner die rhei¬
nischen Fabrikstädte wie Sodom und Gomorrha fliehen. Ihnen bietet sich, zu¬
mal wenn ihre Rente bescheiden ist. auf dem entgegengesetzten Ende der Leiter
so ein Oertchen wie Boppard am Rheine dar, wo die mit Grundbesitz gesegnete
Gemeinde gar keines Zuschusses aus dem Teckel ihrer Angehörigen bedarf. Die
großen Industriellen des Wupperthals, wenn sie sich zur Ruhe setzen, ziehen
"ach Düsseldorf oder erbauen sich in den schönen Umgebungen Borns eine
Villa. Doch muß man es ihrem Gemeinsinn zum Ruhme nachsagen, daß sie
selbst in diesem Falle ihr Haus in der Vaterstadt beizubehalten Pflegen, um an


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diensten um die Stadt. Auf alle Fälle ist der geh. Commerzienrath von der
Heydt seit Anbeginn der Leiter der neuen Armenpflege gewesen und hat ihr
den lebendigen Odem eingehaucht. Es ist also wesentlich mit sein Werk, wenn
durch eine außerordentliche Vermehrung der Zahl der wirkenden Kräfte und die
dadurch allein mögliche Jndividiialifirung der Behandlung die Verhältnißziffer
der Unterstützten seit 1865 von 9V« auf 3 Procent der Bevölkerung gesunken
ist; und seine Schöpfung vor allem ist das stattliche, mit einem besondern Irren¬
haus verbundene städtische Krankenhaus, das man von Düsseldorf kommend auf
einer Anhöhe vor der Stadt sich erheben sieht. Schade nur, daß der aus¬
gezeichnete Arzt, der demselben zuerst vorstand, Virchows Freund und Strebcns-
genofse. Dr. Karl Pagenstecher, dieser Erweiterung und Erhöhung seines Be¬
rufs durch die aufreibenden Anstrengungen einer wuppertbalcr Praxis so frühe
wieder entrissen worden ist! Die elberfelder Armenpflege, die ihre Kraft so
rasch bewährt hat, ist alsbald von den Schwesterstädten Barmer und Crefeld
adoptirt worden. Was es in reinen Jndustrieplätzen wie diesen, wo die große
Mehrzahl der Bevölkerung von der Hand in den Mund lebt, mit der Last der
Armenpflege aus sich hat, zeigt ein Blick in ihren Gemeindehaushalt, der sich
regelmäßig um diesen wichtigen Posten dreht. Die Städte sind so jung, daß
keine Fülle alter Stiftungen, wie beispielsweise in Köln, der lebenden Genera¬
tion den größeren Theil der Last abnimmt. Sie brauchen dafür allerdings auch
nicht mit anzusehen, wie in ihrem Schoße aus den Hilfsmitteln gegen Armuth
die Armuth sich immer wieder neu gebiert; sie sind in ihrer Thätigkeit auf keine
Weise an den zum Unsinn gewordenen Willen Längstvermoderter gebunden. Aber
wenn sie sich nach Gefallen bewegen und die Armuth wirksam bekämpfen
können, so ist die Last für die Gegenwart in Wahrheit schwer. Anderswo
würde man unter ihr zu erliegen glauben. Sie und nichts Anderes ist die
Ursache, wenn die Gemeindeeinkommensteuer jetzt in Elberfeld und Barmer un¬
gefähr acht, in Crefeld sogar zwanzig Procent beträgt, so daß die öffentlichen
Abgaben, Staat und Kirche mitgerechnet, in jenen beiden Städten ein Achtel,
in der letztgenannten, Dank der letzten schlechten Seidenernte, ein volles Viertel
des reinen Einkommens verschlingen!

Es wird hiernach als kein Wunder erscheinen, wenn alle Rentner die rhei¬
nischen Fabrikstädte wie Sodom und Gomorrha fliehen. Ihnen bietet sich, zu¬
mal wenn ihre Rente bescheiden ist. auf dem entgegengesetzten Ende der Leiter
so ein Oertchen wie Boppard am Rheine dar, wo die mit Grundbesitz gesegnete
Gemeinde gar keines Zuschusses aus dem Teckel ihrer Angehörigen bedarf. Die
großen Industriellen des Wupperthals, wenn sie sich zur Ruhe setzen, ziehen
»ach Düsseldorf oder erbauen sich in den schönen Umgebungen Borns eine
Villa. Doch muß man es ihrem Gemeinsinn zum Ruhme nachsagen, daß sie
selbst in diesem Falle ihr Haus in der Vaterstadt beizubehalten Pflegen, um an


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[0329] diensten um die Stadt. Auf alle Fälle ist der geh. Commerzienrath von der Heydt seit Anbeginn der Leiter der neuen Armenpflege gewesen und hat ihr den lebendigen Odem eingehaucht. Es ist also wesentlich mit sein Werk, wenn durch eine außerordentliche Vermehrung der Zahl der wirkenden Kräfte und die dadurch allein mögliche Jndividiialifirung der Behandlung die Verhältnißziffer der Unterstützten seit 1865 von 9V« auf 3 Procent der Bevölkerung gesunken ist; und seine Schöpfung vor allem ist das stattliche, mit einem besondern Irren¬ haus verbundene städtische Krankenhaus, das man von Düsseldorf kommend auf einer Anhöhe vor der Stadt sich erheben sieht. Schade nur, daß der aus¬ gezeichnete Arzt, der demselben zuerst vorstand, Virchows Freund und Strebcns- genofse. Dr. Karl Pagenstecher, dieser Erweiterung und Erhöhung seines Be¬ rufs durch die aufreibenden Anstrengungen einer wuppertbalcr Praxis so frühe wieder entrissen worden ist! Die elberfelder Armenpflege, die ihre Kraft so rasch bewährt hat, ist alsbald von den Schwesterstädten Barmer und Crefeld adoptirt worden. Was es in reinen Jndustrieplätzen wie diesen, wo die große Mehrzahl der Bevölkerung von der Hand in den Mund lebt, mit der Last der Armenpflege aus sich hat, zeigt ein Blick in ihren Gemeindehaushalt, der sich regelmäßig um diesen wichtigen Posten dreht. Die Städte sind so jung, daß keine Fülle alter Stiftungen, wie beispielsweise in Köln, der lebenden Genera¬ tion den größeren Theil der Last abnimmt. Sie brauchen dafür allerdings auch nicht mit anzusehen, wie in ihrem Schoße aus den Hilfsmitteln gegen Armuth die Armuth sich immer wieder neu gebiert; sie sind in ihrer Thätigkeit auf keine Weise an den zum Unsinn gewordenen Willen Längstvermoderter gebunden. Aber wenn sie sich nach Gefallen bewegen und die Armuth wirksam bekämpfen können, so ist die Last für die Gegenwart in Wahrheit schwer. Anderswo würde man unter ihr zu erliegen glauben. Sie und nichts Anderes ist die Ursache, wenn die Gemeindeeinkommensteuer jetzt in Elberfeld und Barmer un¬ gefähr acht, in Crefeld sogar zwanzig Procent beträgt, so daß die öffentlichen Abgaben, Staat und Kirche mitgerechnet, in jenen beiden Städten ein Achtel, in der letztgenannten, Dank der letzten schlechten Seidenernte, ein volles Viertel des reinen Einkommens verschlingen! Es wird hiernach als kein Wunder erscheinen, wenn alle Rentner die rhei¬ nischen Fabrikstädte wie Sodom und Gomorrha fliehen. Ihnen bietet sich, zu¬ mal wenn ihre Rente bescheiden ist. auf dem entgegengesetzten Ende der Leiter so ein Oertchen wie Boppard am Rheine dar, wo die mit Grundbesitz gesegnete Gemeinde gar keines Zuschusses aus dem Teckel ihrer Angehörigen bedarf. Die großen Industriellen des Wupperthals, wenn sie sich zur Ruhe setzen, ziehen »ach Düsseldorf oder erbauen sich in den schönen Umgebungen Borns eine Villa. Doch muß man es ihrem Gemeinsinn zum Ruhme nachsagen, daß sie selbst in diesem Falle ihr Haus in der Vaterstadt beizubehalten Pflegen, um an Grenzboten III. 18i>6. 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/329>, abgerufen am 22.07.2024.