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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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davon betreiben ihre Landwirthschaft selbst. Anders in Groß-, Klein, und
Weißrußland, wo die große Mehrzahl des Adels nicht auf dem Lande wohnte
und keine eigne Ökonomie hatte, sondern von dem Obrok lebte, den ihr ihre
Bauern entrichteten. Die Edelleute hielten sich in den Städten auf, waren
Beamte oder Militärs und besuchten nur selten ihre Landsitze. Großrußland
besaß also keinen Landadel wie Deutschland, und das war bei der Durchführung,
der Reformen von 1861 ein um so größerer Mißstand, als es in Rußland be¬
kanntlich keinen Bürgerstand giebt, wenigstens keinen von der Bildung, welche
zu richtiger Ausfassung und Durchführung der Absichten der Regierung befähigt
gewesen wäre. Der russische Adel repräsentirte bis jetzt zugleich das Bürger-
thum in seinen Hauptrichtungen: er besetzte die Staatsämter, 'er war Fabrikant
und hatte bei weitem die meisten industriellen Etablissements im Lande angelegt:
So mußte sich die Regierung seiner bedienen, als es die Ausführung der neuen
Gesetzgebung zu sichern galt.

. So lange seine Interessen noch mit denen der Bauern verflochten waren,
so lange er sich mit den Bauern in materieller Beziehung noch nicht völlig
auseinandergesetzt hatte, also in der Übergangsperiode, die noch jetzt fortdauert,
war der Adel selbstverständlich sehr bereitwillig, die großen Obliegenheiten, zu
denen ihn die Regierung bei ihrer Reform berief, zu übernehmen. Die Frage
ist nur, ob er sich, wenn seine materiellen Interessen ihn nicht mehr auffordern,
sich um die innern Angelegenheiten der von ihm getrennten Bauern zu kümmern,
nicht jenen Pflichten entziehen und sich passiv Verhalten wird.

Der Verfasser unsrer Schrift meint nun, die Regierung müsse, im Fall
dies einträte, sich bemühen, einen landsäsfigen Adel zu bilden, indem sie die in
den Städten wohnenden Edelleute vermöchte, auf das Land zu ziehen und
Oekonomiegüter anzulegen. Sie müsse sodann die Gouvernementsverfassung,
die nicht nach'nationalen Bedürfnissen gebildet, aber einmal -eingebürgert und
ein guter Rahmen für das staatliche Leben sei, mit lebendigen Und volksthüm-
lichen Institutionen ausfüllen. "Die Gesetzgebung." so fährt der Verfasser fort,
"hat dies bereits angeordnet. In der Gouvernementsverfassung sollte der Adel
eine selbständige, corporative. politische Stellung haben. Der einzelne Adelige
hatte hiernach über seinen Grund und Boden und seine Leibeignen eilte fast
uneingeschränkte Disposition, er hatte die Jurisdiction und Polizei über seine
Leute. In den guten Fällen lief das nur auf eine unter den Gesetzen der all¬
gemeinen Moral und des Christenthums stehende wohlwollende Willkür hinaus,
die der Familienvater ausübt, um unter seinen Kindern die Ordnung aufrecht
zu erhalten. Der angesessene Adelige war Mitglied Ver Districts- und Gouverne-
mentsadelscorporation, die man nach russischen Begriffen besser als-Adelscom¬
mune bezeichnen würde. Diesen Körperschaften war die allgemeine Landes-
polizei übertragen, die sie durch aus ihrer Mitte gewählte Beamte ausübte.


davon betreiben ihre Landwirthschaft selbst. Anders in Groß-, Klein, und
Weißrußland, wo die große Mehrzahl des Adels nicht auf dem Lande wohnte
und keine eigne Ökonomie hatte, sondern von dem Obrok lebte, den ihr ihre
Bauern entrichteten. Die Edelleute hielten sich in den Städten auf, waren
Beamte oder Militärs und besuchten nur selten ihre Landsitze. Großrußland
besaß also keinen Landadel wie Deutschland, und das war bei der Durchführung,
der Reformen von 1861 ein um so größerer Mißstand, als es in Rußland be¬
kanntlich keinen Bürgerstand giebt, wenigstens keinen von der Bildung, welche
zu richtiger Ausfassung und Durchführung der Absichten der Regierung befähigt
gewesen wäre. Der russische Adel repräsentirte bis jetzt zugleich das Bürger-
thum in seinen Hauptrichtungen: er besetzte die Staatsämter, 'er war Fabrikant
und hatte bei weitem die meisten industriellen Etablissements im Lande angelegt:
So mußte sich die Regierung seiner bedienen, als es die Ausführung der neuen
Gesetzgebung zu sichern galt.

. So lange seine Interessen noch mit denen der Bauern verflochten waren,
so lange er sich mit den Bauern in materieller Beziehung noch nicht völlig
auseinandergesetzt hatte, also in der Übergangsperiode, die noch jetzt fortdauert,
war der Adel selbstverständlich sehr bereitwillig, die großen Obliegenheiten, zu
denen ihn die Regierung bei ihrer Reform berief, zu übernehmen. Die Frage
ist nur, ob er sich, wenn seine materiellen Interessen ihn nicht mehr auffordern,
sich um die innern Angelegenheiten der von ihm getrennten Bauern zu kümmern,
nicht jenen Pflichten entziehen und sich passiv Verhalten wird.

Der Verfasser unsrer Schrift meint nun, die Regierung müsse, im Fall
dies einträte, sich bemühen, einen landsäsfigen Adel zu bilden, indem sie die in
den Städten wohnenden Edelleute vermöchte, auf das Land zu ziehen und
Oekonomiegüter anzulegen. Sie müsse sodann die Gouvernementsverfassung,
die nicht nach'nationalen Bedürfnissen gebildet, aber einmal -eingebürgert und
ein guter Rahmen für das staatliche Leben sei, mit lebendigen Und volksthüm-
lichen Institutionen ausfüllen. „Die Gesetzgebung." so fährt der Verfasser fort,
„hat dies bereits angeordnet. In der Gouvernementsverfassung sollte der Adel
eine selbständige, corporative. politische Stellung haben. Der einzelne Adelige
hatte hiernach über seinen Grund und Boden und seine Leibeignen eilte fast
uneingeschränkte Disposition, er hatte die Jurisdiction und Polizei über seine
Leute. In den guten Fällen lief das nur auf eine unter den Gesetzen der all¬
gemeinen Moral und des Christenthums stehende wohlwollende Willkür hinaus,
die der Familienvater ausübt, um unter seinen Kindern die Ordnung aufrecht
zu erhalten. Der angesessene Adelige war Mitglied Ver Districts- und Gouverne-
mentsadelscorporation, die man nach russischen Begriffen besser als-Adelscom¬
mune bezeichnen würde. Diesen Körperschaften war die allgemeine Landes-
polizei übertragen, die sie durch aus ihrer Mitte gewählte Beamte ausübte.


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[0280] davon betreiben ihre Landwirthschaft selbst. Anders in Groß-, Klein, und Weißrußland, wo die große Mehrzahl des Adels nicht auf dem Lande wohnte und keine eigne Ökonomie hatte, sondern von dem Obrok lebte, den ihr ihre Bauern entrichteten. Die Edelleute hielten sich in den Städten auf, waren Beamte oder Militärs und besuchten nur selten ihre Landsitze. Großrußland besaß also keinen Landadel wie Deutschland, und das war bei der Durchführung, der Reformen von 1861 ein um so größerer Mißstand, als es in Rußland be¬ kanntlich keinen Bürgerstand giebt, wenigstens keinen von der Bildung, welche zu richtiger Ausfassung und Durchführung der Absichten der Regierung befähigt gewesen wäre. Der russische Adel repräsentirte bis jetzt zugleich das Bürger- thum in seinen Hauptrichtungen: er besetzte die Staatsämter, 'er war Fabrikant und hatte bei weitem die meisten industriellen Etablissements im Lande angelegt: So mußte sich die Regierung seiner bedienen, als es die Ausführung der neuen Gesetzgebung zu sichern galt. . So lange seine Interessen noch mit denen der Bauern verflochten waren, so lange er sich mit den Bauern in materieller Beziehung noch nicht völlig auseinandergesetzt hatte, also in der Übergangsperiode, die noch jetzt fortdauert, war der Adel selbstverständlich sehr bereitwillig, die großen Obliegenheiten, zu denen ihn die Regierung bei ihrer Reform berief, zu übernehmen. Die Frage ist nur, ob er sich, wenn seine materiellen Interessen ihn nicht mehr auffordern, sich um die innern Angelegenheiten der von ihm getrennten Bauern zu kümmern, nicht jenen Pflichten entziehen und sich passiv Verhalten wird. Der Verfasser unsrer Schrift meint nun, die Regierung müsse, im Fall dies einträte, sich bemühen, einen landsäsfigen Adel zu bilden, indem sie die in den Städten wohnenden Edelleute vermöchte, auf das Land zu ziehen und Oekonomiegüter anzulegen. Sie müsse sodann die Gouvernementsverfassung, die nicht nach'nationalen Bedürfnissen gebildet, aber einmal -eingebürgert und ein guter Rahmen für das staatliche Leben sei, mit lebendigen Und volksthüm- lichen Institutionen ausfüllen. „Die Gesetzgebung." so fährt der Verfasser fort, „hat dies bereits angeordnet. In der Gouvernementsverfassung sollte der Adel eine selbständige, corporative. politische Stellung haben. Der einzelne Adelige hatte hiernach über seinen Grund und Boden und seine Leibeignen eilte fast uneingeschränkte Disposition, er hatte die Jurisdiction und Polizei über seine Leute. In den guten Fällen lief das nur auf eine unter den Gesetzen der all¬ gemeinen Moral und des Christenthums stehende wohlwollende Willkür hinaus, die der Familienvater ausübt, um unter seinen Kindern die Ordnung aufrecht zu erhalten. Der angesessene Adelige war Mitglied Ver Districts- und Gouverne- mentsadelscorporation, die man nach russischen Begriffen besser als-Adelscom¬ mune bezeichnen würde. Diesen Körperschaften war die allgemeine Landes- polizei übertragen, die sie durch aus ihrer Mitte gewählte Beamte ausübte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/280>, abgerufen am 22.07.2024.