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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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stützen. Aber wie gutmüthig ist auch dieses Verfahren ganz auf die Persön¬
lichkeit des "guten Lucas' zurückgeführt! Er war, sagt Renan, ein officieller
Apylogist, der uns durch eine fromme Erzählung zu überzeugen sucht, daß man
auf beiden Seiten im Kampf immer die Regeln der christlichen Liebe beobachtet
habe, etwa "wie man in 200 Jahren auch behaupten wird, daß der Cardinal
Antonelli und Herr von Merode sich wie zwei Brüder liebten. Er war mit
einer unvergleichlichen Naivetät der erste dieser gefälligen, selig zufriedengestellten
Erzähler, die entschlossen sind alles so darzustellen, als ob alles in der Kirche
auf eine evangelische Weise zugehe. So löschte er die Verschiedenheiten der
Lehre aus, zu ehrlich, um seinen Lehrer Paulus zu verdammen und zu recht¬
gläubig, um sich nicht mit der vorherrschend officiellen Meinung in Einklang
zu setzen/ Der gute Lucas und der gute Renan! Wie weit sind diese kind¬
lichen Bemerkungen entfernt von einem wirklichen Einblick in die Schärfe der
damaligen Parteiverhältnisse und in die Motive der neutestamentlichen Literatur.
Wäre Renan mit jenen "abschließenden" Arbeiten der deutschen Kritik vertrauter,
so hätte ihn die durchgeführte Abstchtlichkeit in der Erzählung der Apostel¬
geschichte auch auf eine ganz andere Abfassungszeit geführt; denn diese ergiebt
sich eben aus dem dogmatischen Standpunkt, den sie zur Geltung bringen will,
er wäre überhaupt vorsichtiger in dem Gebrauch der Angaben dieses Buchs.
Aber das natürliche Mißtrauen des Kritikers ist ihm fremd. Wenn er auch in
den Hauptpunkten, wo der Galaterbrief direct der Apostelgeschichte widerspricht,
z. B. in Betreff des Apostelconcils, sich an jene zuverlässige Quelle hält, so
benutzt er doch die Legenden der letzteren, welchen gleichfalls die dogmatische
Tendenz überall nachgewiesen ist, ganz sorglos zur Ausschmückung seiner Er¬
zählung. Kann er sich nicht an den Wortlaut der Legenden halten, so muß
doch, meint er, immer etwas Historisches zu Grunde liegen, und dieses zu ent¬
decken sei die Pflicht des Kritikers. "Beinahe alles in den Einzelheiten ist falsch
nichts desto weniger ist es erlaubt, die kostbaren Wahrheiten derselben anzunehmen/
Et ist dies ganz jene veraltete Ansicht vom Mythus, die freilich auch in der
Evangelienkritik noch vielfach spukt. Wenn zum Beispiel eine Todtenerweckung
erzählt wird, so muß wenigstens so viel wahr sein, daß ein Scheintodter wieder
zum Leben gebracht ist. Oder: die Verwandlung von Wasser in Wein kann
freilich nicht vor sich gegangen sein, aber daß Jesus damals in Kana wenigstens
für ausreichenden Weinvorrath gesorgt hat, muß doch der historische Kern der
Erzählung sein u. f. w. Als ob nicht diese Geschichten eben nur um des Wun-
ders willen erzählt wären, und als ob. wenn das Wunder fällt, die ganze Er¬
zählung, die nur zur Versinnlichung eines lehrhaften Gedankens erfunden ist,
noch irgendeinen Halt hätte! Aber freilich, wenn man einen Zeitraum, aus
Veni fast nichts Andres überliefert ist als solche zweifelhafte Erzählungen, in
Form von Geschichte darstellen will, braucht man die einzelnen Züge, wo man


stützen. Aber wie gutmüthig ist auch dieses Verfahren ganz auf die Persön¬
lichkeit des „guten Lucas' zurückgeführt! Er war, sagt Renan, ein officieller
Apylogist, der uns durch eine fromme Erzählung zu überzeugen sucht, daß man
auf beiden Seiten im Kampf immer die Regeln der christlichen Liebe beobachtet
habe, etwa „wie man in 200 Jahren auch behaupten wird, daß der Cardinal
Antonelli und Herr von Merode sich wie zwei Brüder liebten. Er war mit
einer unvergleichlichen Naivetät der erste dieser gefälligen, selig zufriedengestellten
Erzähler, die entschlossen sind alles so darzustellen, als ob alles in der Kirche
auf eine evangelische Weise zugehe. So löschte er die Verschiedenheiten der
Lehre aus, zu ehrlich, um seinen Lehrer Paulus zu verdammen und zu recht¬
gläubig, um sich nicht mit der vorherrschend officiellen Meinung in Einklang
zu setzen/ Der gute Lucas und der gute Renan! Wie weit sind diese kind¬
lichen Bemerkungen entfernt von einem wirklichen Einblick in die Schärfe der
damaligen Parteiverhältnisse und in die Motive der neutestamentlichen Literatur.
Wäre Renan mit jenen „abschließenden" Arbeiten der deutschen Kritik vertrauter,
so hätte ihn die durchgeführte Abstchtlichkeit in der Erzählung der Apostel¬
geschichte auch auf eine ganz andere Abfassungszeit geführt; denn diese ergiebt
sich eben aus dem dogmatischen Standpunkt, den sie zur Geltung bringen will,
er wäre überhaupt vorsichtiger in dem Gebrauch der Angaben dieses Buchs.
Aber das natürliche Mißtrauen des Kritikers ist ihm fremd. Wenn er auch in
den Hauptpunkten, wo der Galaterbrief direct der Apostelgeschichte widerspricht,
z. B. in Betreff des Apostelconcils, sich an jene zuverlässige Quelle hält, so
benutzt er doch die Legenden der letzteren, welchen gleichfalls die dogmatische
Tendenz überall nachgewiesen ist, ganz sorglos zur Ausschmückung seiner Er¬
zählung. Kann er sich nicht an den Wortlaut der Legenden halten, so muß
doch, meint er, immer etwas Historisches zu Grunde liegen, und dieses zu ent¬
decken sei die Pflicht des Kritikers. „Beinahe alles in den Einzelheiten ist falsch
nichts desto weniger ist es erlaubt, die kostbaren Wahrheiten derselben anzunehmen/
Et ist dies ganz jene veraltete Ansicht vom Mythus, die freilich auch in der
Evangelienkritik noch vielfach spukt. Wenn zum Beispiel eine Todtenerweckung
erzählt wird, so muß wenigstens so viel wahr sein, daß ein Scheintodter wieder
zum Leben gebracht ist. Oder: die Verwandlung von Wasser in Wein kann
freilich nicht vor sich gegangen sein, aber daß Jesus damals in Kana wenigstens
für ausreichenden Weinvorrath gesorgt hat, muß doch der historische Kern der
Erzählung sein u. f. w. Als ob nicht diese Geschichten eben nur um des Wun-
ders willen erzählt wären, und als ob. wenn das Wunder fällt, die ganze Er¬
zählung, die nur zur Versinnlichung eines lehrhaften Gedankens erfunden ist,
noch irgendeinen Halt hätte! Aber freilich, wenn man einen Zeitraum, aus
Veni fast nichts Andres überliefert ist als solche zweifelhafte Erzählungen, in
Form von Geschichte darstellen will, braucht man die einzelnen Züge, wo man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/106>, abgerufen am 24.06.2024.