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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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die Regierung in Turin war, konnte ohne Anstand auf Cavour der Toskaner
Ricasoli. auf Rattazzi der Nomagnvle Farini und der Toskaner Peruzzi im
Ministerium folge"; in Florenz dagegen schien vorerst nur ein piemontesischcs
Ministerium möglich, das durch die nacheinander eingetretenen Veränderungen
in Besetzung der Stellen für die Justiz (Vacco, Cortese), für das Innere (Lanza,
Natoli, Chiaves) und endlich für die Finanzen (Sella, Scialoja) nicht wesent¬
lich in seinem Charakter alterirt wurde.

Die allgemeinen Parlamentswahlen standen bevor. Das Uebergangs-
nunistcrium sollte bleiben, bis durch die Entscheidung der Wähler die Lage
geklärt wäre. Nur ein gewisses Jndemnitätsvotum war das Ministerium La-
marmora noch schuldig von der neuen Kammer einzuholen, da es auf außer¬
gewöhnlichem Weg zu Stande gekommen war und noch keine parlamentarische
Sanction erhalten hatte; denn das Votum für den Septembervertrag bedeutete
mehr eine Rechtfertigung für das Cabinet Minghctti-Peruzzi als für dessen
Nachfolger. Dann aber ging die Regierung naturgemäß an diejenige Partei
über, welche in den Wahlen siegreich geblieben war. Aber nun trat von Neuem
ein Unerwartetes ein. Als die Kammer zum ersten Mal in dem von Vasari
geschmückten Saat der Fünfhundert zusammenkam, zeigte sich, daß die Lage sich
in keiner Weise geklärt, vielmehr verschlimmert hatte. Jenes allgemein politische
Mißbehagen, verstärkt durch locale und insbesondere finanzielle Unzufriedenheiten,
hatte zumal in den Wahlen sich geäußert. Die Bänke der Ehrenwerthen zeigten
eine unverhältnißmäßige Anzahl von Neulingen, welche nichts Anderes mit¬
brachten als ihre guten Vorsätze; die alte parlamentarische Mehrheit, welche
seit Cavours Tod. obwohl unter Führung wechselnder Ministerien, die Regierung
gelenkt hatte, war zertrümmert; die Linke sah sich beträchtlich verstärkt, aber
ohne für sich die Mehrheit zu besitzen; das linke Centrum unter Rattazzis
Führung sonderte sich strenger ab; eine Anzahl schmollender Piemontesen bildete
eine Partei für sich, gleichfalls unfähig die Regierung zu übernehmen, aber
stark genug, um jede andere Parteiregierung unmöglich zu machen. Die Wähler
hatten eine Menge Ministercandidaten, aber keine regierungsfähige Mehrheit in
die Kammer geschickt. Unter diesen Umständen erwies sich das Ministerium
Larnarmora von Neuem als eine Nothwendigkeit, und diesmal kam ihm nicht
blos der Umstand zu statten, daß es auf die solide Basis des alten sardinischen
Staats gegründet war, sondern daß es zugleich keine ausgesprochene Partei-
fcirbung hatte. Der Name Lamarmora bedeutete nicht eine politische Partei,
sondern die savovische Dynastie, und diese war im Grund augenblicklich das
einzige Einheitsband. Eine dauerhafte Mehrheit war in dem constitutionellen
Staat ohne Zweifel unentbehrlich, aber sie .war erst zu finden, und bis diese
aus dem parlamentarischen Chaos sich herausgebildet hatte, sei es durch all-
Mäliges Abschleifen der kleinen und zum großen Theil persönlichen Partei-


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die Regierung in Turin war, konnte ohne Anstand auf Cavour der Toskaner
Ricasoli. auf Rattazzi der Nomagnvle Farini und der Toskaner Peruzzi im
Ministerium folge»; in Florenz dagegen schien vorerst nur ein piemontesischcs
Ministerium möglich, das durch die nacheinander eingetretenen Veränderungen
in Besetzung der Stellen für die Justiz (Vacco, Cortese), für das Innere (Lanza,
Natoli, Chiaves) und endlich für die Finanzen (Sella, Scialoja) nicht wesent¬
lich in seinem Charakter alterirt wurde.

Die allgemeinen Parlamentswahlen standen bevor. Das Uebergangs-
nunistcrium sollte bleiben, bis durch die Entscheidung der Wähler die Lage
geklärt wäre. Nur ein gewisses Jndemnitätsvotum war das Ministerium La-
marmora noch schuldig von der neuen Kammer einzuholen, da es auf außer¬
gewöhnlichem Weg zu Stande gekommen war und noch keine parlamentarische
Sanction erhalten hatte; denn das Votum für den Septembervertrag bedeutete
mehr eine Rechtfertigung für das Cabinet Minghctti-Peruzzi als für dessen
Nachfolger. Dann aber ging die Regierung naturgemäß an diejenige Partei
über, welche in den Wahlen siegreich geblieben war. Aber nun trat von Neuem
ein Unerwartetes ein. Als die Kammer zum ersten Mal in dem von Vasari
geschmückten Saat der Fünfhundert zusammenkam, zeigte sich, daß die Lage sich
in keiner Weise geklärt, vielmehr verschlimmert hatte. Jenes allgemein politische
Mißbehagen, verstärkt durch locale und insbesondere finanzielle Unzufriedenheiten,
hatte zumal in den Wahlen sich geäußert. Die Bänke der Ehrenwerthen zeigten
eine unverhältnißmäßige Anzahl von Neulingen, welche nichts Anderes mit¬
brachten als ihre guten Vorsätze; die alte parlamentarische Mehrheit, welche
seit Cavours Tod. obwohl unter Führung wechselnder Ministerien, die Regierung
gelenkt hatte, war zertrümmert; die Linke sah sich beträchtlich verstärkt, aber
ohne für sich die Mehrheit zu besitzen; das linke Centrum unter Rattazzis
Führung sonderte sich strenger ab; eine Anzahl schmollender Piemontesen bildete
eine Partei für sich, gleichfalls unfähig die Regierung zu übernehmen, aber
stark genug, um jede andere Parteiregierung unmöglich zu machen. Die Wähler
hatten eine Menge Ministercandidaten, aber keine regierungsfähige Mehrheit in
die Kammer geschickt. Unter diesen Umständen erwies sich das Ministerium
Larnarmora von Neuem als eine Nothwendigkeit, und diesmal kam ihm nicht
blos der Umstand zu statten, daß es auf die solide Basis des alten sardinischen
Staats gegründet war, sondern daß es zugleich keine ausgesprochene Partei-
fcirbung hatte. Der Name Lamarmora bedeutete nicht eine politische Partei,
sondern die savovische Dynastie, und diese war im Grund augenblicklich das
einzige Einheitsband. Eine dauerhafte Mehrheit war in dem constitutionellen
Staat ohne Zweifel unentbehrlich, aber sie .war erst zu finden, und bis diese
aus dem parlamentarischen Chaos sich herausgebildet hatte, sei es durch all-
Mäliges Abschleifen der kleinen und zum großen Theil persönlichen Partei-


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[0097] die Regierung in Turin war, konnte ohne Anstand auf Cavour der Toskaner Ricasoli. auf Rattazzi der Nomagnvle Farini und der Toskaner Peruzzi im Ministerium folge»; in Florenz dagegen schien vorerst nur ein piemontesischcs Ministerium möglich, das durch die nacheinander eingetretenen Veränderungen in Besetzung der Stellen für die Justiz (Vacco, Cortese), für das Innere (Lanza, Natoli, Chiaves) und endlich für die Finanzen (Sella, Scialoja) nicht wesent¬ lich in seinem Charakter alterirt wurde. Die allgemeinen Parlamentswahlen standen bevor. Das Uebergangs- nunistcrium sollte bleiben, bis durch die Entscheidung der Wähler die Lage geklärt wäre. Nur ein gewisses Jndemnitätsvotum war das Ministerium La- marmora noch schuldig von der neuen Kammer einzuholen, da es auf außer¬ gewöhnlichem Weg zu Stande gekommen war und noch keine parlamentarische Sanction erhalten hatte; denn das Votum für den Septembervertrag bedeutete mehr eine Rechtfertigung für das Cabinet Minghctti-Peruzzi als für dessen Nachfolger. Dann aber ging die Regierung naturgemäß an diejenige Partei über, welche in den Wahlen siegreich geblieben war. Aber nun trat von Neuem ein Unerwartetes ein. Als die Kammer zum ersten Mal in dem von Vasari geschmückten Saat der Fünfhundert zusammenkam, zeigte sich, daß die Lage sich in keiner Weise geklärt, vielmehr verschlimmert hatte. Jenes allgemein politische Mißbehagen, verstärkt durch locale und insbesondere finanzielle Unzufriedenheiten, hatte zumal in den Wahlen sich geäußert. Die Bänke der Ehrenwerthen zeigten eine unverhältnißmäßige Anzahl von Neulingen, welche nichts Anderes mit¬ brachten als ihre guten Vorsätze; die alte parlamentarische Mehrheit, welche seit Cavours Tod. obwohl unter Führung wechselnder Ministerien, die Regierung gelenkt hatte, war zertrümmert; die Linke sah sich beträchtlich verstärkt, aber ohne für sich die Mehrheit zu besitzen; das linke Centrum unter Rattazzis Führung sonderte sich strenger ab; eine Anzahl schmollender Piemontesen bildete eine Partei für sich, gleichfalls unfähig die Regierung zu übernehmen, aber stark genug, um jede andere Parteiregierung unmöglich zu machen. Die Wähler hatten eine Menge Ministercandidaten, aber keine regierungsfähige Mehrheit in die Kammer geschickt. Unter diesen Umständen erwies sich das Ministerium Larnarmora von Neuem als eine Nothwendigkeit, und diesmal kam ihm nicht blos der Umstand zu statten, daß es auf die solide Basis des alten sardinischen Staats gegründet war, sondern daß es zugleich keine ausgesprochene Partei- fcirbung hatte. Der Name Lamarmora bedeutete nicht eine politische Partei, sondern die savovische Dynastie, und diese war im Grund augenblicklich das einzige Einheitsband. Eine dauerhafte Mehrheit war in dem constitutionellen Staat ohne Zweifel unentbehrlich, aber sie .war erst zu finden, und bis diese aus dem parlamentarischen Chaos sich herausgebildet hatte, sei es durch all- Mäliges Abschleifen der kleinen und zum großen Theil persönlichen Partei- 11*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/97>, abgerufen am 28.07.2024.