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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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gründet in der bekannten Denkschrift des Gesandten am londoner Hof, Grafen
San Martino d'Aglis, welche zuerst von Sclopis, dann von Farini veröffent¬
licht, auch bei Reuchlin im Auszug mitgetheilt ist. D'Aglio hatte diese Denk¬
schrift im Auftrag seines Souveräns im Mai 1814 verfaßt und Castlereagh
vor dessen Abreise nach Wien eingehändigt. Zugleich wurden die piemonte-
sischen Bevollmächtigten in Wien, Graf San Marzano und Graf Rossi, beauf¬
tragt, diese Denkschrift als ihre Instruction zu betrachten. Dieselbe führte aus,
daß die Lage Piemonts durch die im pariser Vertrag angebahnte Vertheilung
Oberitaliens gegen früher bedeutend verschlimmert sei; denn während zuvor
Oberitalien in neun Staaten zerfiel, und Piemont der vom übrigen Oestreich
getrennten, darum schwachen Lombardei gegenüberstand, sei es jetzt der unmittel¬
bare Grenznachbar des.übermächtigen arrondirten Oestreichs. Mit seiner Tessin-
grenze liege es völlig schutzlos und offen gegen Oestreich da, dieses könne jederzeit
Turin überfallen, und es sei klar, bis zu welchem Grad dadurch die Unab¬
hängigkeit des einzigen in Italien regierenden italienischen Fürsten gefährdet sei.
Die Annexion Genuas sei werthvoll, diene aber keineswegs zum Schutze Pie¬
monts gegen die italienische Seite. Oestreichs Vergrößerung werde keine andere
Frucht haben, als die Knechtung Italiens, die Zerstörung des politischen Gleich¬
gewichts im Süden, ohne doch Oestreich wahre solide Vortheile zu verschaffen.
Denn Italien sei von Deutschland durch die Alpen wie durch die Nationalität
getrennt, und noch keinem der Staaten, welche einen Fuß in Italien haben
wollten, sei dies zum Segen gewesen. Der Vorschlag d'AglivS ging dahin,
daß die Grenze vom Gardasee den Mincio entlang gezogen werde, so daß
Peschiera und Mantua an Piemont, Verona an Oestreich fiel. Südlich sollte
die Grenze so gezogen werden, daß Parma zu Piemont kam, und jenseits des
Appennin die Magra bis zu ihrer Mündung bei Sarzana die Grenze bilden.

Auch mündlich suchte d'Aglio die englischen Staatsmänner für diese Vor¬
schläge zu gewinnen. Ueber die Aufnahme, welche dieselben fanden, konnte er
freilich nichts Günstiges nach Turin berichten. Man hatte die Hände längst an
Oestreich gebunden und erwiederte ihm, es seien allzu entgegengesetzte Interessen
im Spiel und dergleichen. Als d'Aglio einwarf, wenn die Verbündeten auf
ihren Projecten beharrten. werde der König von Sardinien in eine so precäre
Lage gebracht, daß er früher oder später seiner Politik eine andere Richtung
geben und aus der Seite Frankreichs Stellung nehmen müsse, erwiederte ihm
Lord Bathurst: das allgemeine höchste Interesse sei so sehr die Vertheidigung
Italiens gegen neue Invasionen, daß der König von Sardinien auf jede Weise
sich eng an Oestreich anschließen müsse. Später sagte man den piemontesischen
Diplomaten wohl auch, daß man bei der reactionären Politik ihrer Regierung
nichts für sie thun könne, eine Ausrede, die jedenfalls im Munde Castlereaghs
übel klang.


gründet in der bekannten Denkschrift des Gesandten am londoner Hof, Grafen
San Martino d'Aglis, welche zuerst von Sclopis, dann von Farini veröffent¬
licht, auch bei Reuchlin im Auszug mitgetheilt ist. D'Aglio hatte diese Denk¬
schrift im Auftrag seines Souveräns im Mai 1814 verfaßt und Castlereagh
vor dessen Abreise nach Wien eingehändigt. Zugleich wurden die piemonte-
sischen Bevollmächtigten in Wien, Graf San Marzano und Graf Rossi, beauf¬
tragt, diese Denkschrift als ihre Instruction zu betrachten. Dieselbe führte aus,
daß die Lage Piemonts durch die im pariser Vertrag angebahnte Vertheilung
Oberitaliens gegen früher bedeutend verschlimmert sei; denn während zuvor
Oberitalien in neun Staaten zerfiel, und Piemont der vom übrigen Oestreich
getrennten, darum schwachen Lombardei gegenüberstand, sei es jetzt der unmittel¬
bare Grenznachbar des.übermächtigen arrondirten Oestreichs. Mit seiner Tessin-
grenze liege es völlig schutzlos und offen gegen Oestreich da, dieses könne jederzeit
Turin überfallen, und es sei klar, bis zu welchem Grad dadurch die Unab¬
hängigkeit des einzigen in Italien regierenden italienischen Fürsten gefährdet sei.
Die Annexion Genuas sei werthvoll, diene aber keineswegs zum Schutze Pie¬
monts gegen die italienische Seite. Oestreichs Vergrößerung werde keine andere
Frucht haben, als die Knechtung Italiens, die Zerstörung des politischen Gleich¬
gewichts im Süden, ohne doch Oestreich wahre solide Vortheile zu verschaffen.
Denn Italien sei von Deutschland durch die Alpen wie durch die Nationalität
getrennt, und noch keinem der Staaten, welche einen Fuß in Italien haben
wollten, sei dies zum Segen gewesen. Der Vorschlag d'AglivS ging dahin,
daß die Grenze vom Gardasee den Mincio entlang gezogen werde, so daß
Peschiera und Mantua an Piemont, Verona an Oestreich fiel. Südlich sollte
die Grenze so gezogen werden, daß Parma zu Piemont kam, und jenseits des
Appennin die Magra bis zu ihrer Mündung bei Sarzana die Grenze bilden.

Auch mündlich suchte d'Aglio die englischen Staatsmänner für diese Vor¬
schläge zu gewinnen. Ueber die Aufnahme, welche dieselben fanden, konnte er
freilich nichts Günstiges nach Turin berichten. Man hatte die Hände längst an
Oestreich gebunden und erwiederte ihm, es seien allzu entgegengesetzte Interessen
im Spiel und dergleichen. Als d'Aglio einwarf, wenn die Verbündeten auf
ihren Projecten beharrten. werde der König von Sardinien in eine so precäre
Lage gebracht, daß er früher oder später seiner Politik eine andere Richtung
geben und aus der Seite Frankreichs Stellung nehmen müsse, erwiederte ihm
Lord Bathurst: das allgemeine höchste Interesse sei so sehr die Vertheidigung
Italiens gegen neue Invasionen, daß der König von Sardinien auf jede Weise
sich eng an Oestreich anschließen müsse. Später sagte man den piemontesischen
Diplomaten wohl auch, daß man bei der reactionären Politik ihrer Regierung
nichts für sie thun könne, eine Ausrede, die jedenfalls im Munde Castlereaghs
übel klang.


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[0478] gründet in der bekannten Denkschrift des Gesandten am londoner Hof, Grafen San Martino d'Aglis, welche zuerst von Sclopis, dann von Farini veröffent¬ licht, auch bei Reuchlin im Auszug mitgetheilt ist. D'Aglio hatte diese Denk¬ schrift im Auftrag seines Souveräns im Mai 1814 verfaßt und Castlereagh vor dessen Abreise nach Wien eingehändigt. Zugleich wurden die piemonte- sischen Bevollmächtigten in Wien, Graf San Marzano und Graf Rossi, beauf¬ tragt, diese Denkschrift als ihre Instruction zu betrachten. Dieselbe führte aus, daß die Lage Piemonts durch die im pariser Vertrag angebahnte Vertheilung Oberitaliens gegen früher bedeutend verschlimmert sei; denn während zuvor Oberitalien in neun Staaten zerfiel, und Piemont der vom übrigen Oestreich getrennten, darum schwachen Lombardei gegenüberstand, sei es jetzt der unmittel¬ bare Grenznachbar des.übermächtigen arrondirten Oestreichs. Mit seiner Tessin- grenze liege es völlig schutzlos und offen gegen Oestreich da, dieses könne jederzeit Turin überfallen, und es sei klar, bis zu welchem Grad dadurch die Unab¬ hängigkeit des einzigen in Italien regierenden italienischen Fürsten gefährdet sei. Die Annexion Genuas sei werthvoll, diene aber keineswegs zum Schutze Pie¬ monts gegen die italienische Seite. Oestreichs Vergrößerung werde keine andere Frucht haben, als die Knechtung Italiens, die Zerstörung des politischen Gleich¬ gewichts im Süden, ohne doch Oestreich wahre solide Vortheile zu verschaffen. Denn Italien sei von Deutschland durch die Alpen wie durch die Nationalität getrennt, und noch keinem der Staaten, welche einen Fuß in Italien haben wollten, sei dies zum Segen gewesen. Der Vorschlag d'AglivS ging dahin, daß die Grenze vom Gardasee den Mincio entlang gezogen werde, so daß Peschiera und Mantua an Piemont, Verona an Oestreich fiel. Südlich sollte die Grenze so gezogen werden, daß Parma zu Piemont kam, und jenseits des Appennin die Magra bis zu ihrer Mündung bei Sarzana die Grenze bilden. Auch mündlich suchte d'Aglio die englischen Staatsmänner für diese Vor¬ schläge zu gewinnen. Ueber die Aufnahme, welche dieselben fanden, konnte er freilich nichts Günstiges nach Turin berichten. Man hatte die Hände längst an Oestreich gebunden und erwiederte ihm, es seien allzu entgegengesetzte Interessen im Spiel und dergleichen. Als d'Aglio einwarf, wenn die Verbündeten auf ihren Projecten beharrten. werde der König von Sardinien in eine so precäre Lage gebracht, daß er früher oder später seiner Politik eine andere Richtung geben und aus der Seite Frankreichs Stellung nehmen müsse, erwiederte ihm Lord Bathurst: das allgemeine höchste Interesse sei so sehr die Vertheidigung Italiens gegen neue Invasionen, daß der König von Sardinien auf jede Weise sich eng an Oestreich anschließen müsse. Später sagte man den piemontesischen Diplomaten wohl auch, daß man bei der reactionären Politik ihrer Regierung nichts für sie thun könne, eine Ausrede, die jedenfalls im Munde Castlereaghs übel klang.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/478>, abgerufen am 27.07.2024.