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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Abhängigkeit zurück, in der die übrige Halbinsel lag, und machte die Italiener
lange Jahre irre an dem einzig richtigen Weg zu ihrer Wiedergeburt. Dieser
innere Widerspruch, der erst nach langen Täuschungen und Irrungen gehoben
werden sollte, ist es, welcher der piemontesischen Politik in diesem Jahrhundert
ihr ganz eigenthümliches Interesse verleiht.

Erst in neuerer Zeit ist das Nähere über die Anstrengungen und Mi߬
erfolge, zwischen welchen die piemontesische Staatskunst so lange hin" und her-
geworfen wurde, bekannt geworden. Farini hat zuerst für seine -- leider nur
zu zwei Bänden gediehene Geschichte Italiens seit 1814 (Turin 1854 und 1839) --
aus den in dem piemontesischen Archiv befindlichen Staatsschriften Mittheilungen
gemacht, und man weiß aus Reuchlin und Gervinus, welche Ausbeute hier zu
holen war. Noch ungleich reichhaltiger flössen die Quellen, seitdem auch die
Archive der andern italienischen Staaten zugänglich wurden. Das oben ge¬
nannte Werk von Nicomede Bianchi, auf Grund dessen wir den Entwicklungs¬
gang der piemontesischen Politik seit den wiener Verträgen noch nach mehren
Seiten betrachten werden, beruht auf einem ausgebreiteten diplomatischen Material,
das die Politik der italienischen wie der auswärtigen Höfe, wenn nicht in neuem
Lichte, doch vielfach in schärferen Umrissen und charakteristischen Einzelnheiten
hervortreten läßt. Besonderen Werth erhält es dadurch, daß es nicht blos die
Resultate der archivalischen Forschung in einer summarischen Geschichtserzählung
zusammenfaßt, sondern eine beträchtliche Anzahl von Ackerstücken, etwa die
Hälfte der beiden bisher erschienenen Bände füllend, wörtlich mittheilt. Manches,
was bisher bloße Vermuthung war oder auf das Zeugniß eines vielleicht nicht
ganz unparteiischen Berichterstatters angenommen werden mußte, tritt jetzt in
officieller Beglaubigung ans Tageslicht. Die piemontesische Politik insbesondere
läßt sich als ein zusammenhängendes Ganzes klar überblicken, und wenn schon
dies einen günstigen Eindruck hervorbringen muß, daß die Depeschen der pie¬
montesischen Diplomaten in der Regel Muster staatsmännischer Feinheit, Bered¬
samkeit und Schärfe sind, so mag man zugleich eine Art historischer Rechtfer¬
tigung darin erblicken, daß die Ziele dieser Staatskunst unverändert dieselben
geblieben sind, und Graf Cavour mit keinem andern Programm in den Krieg
von 1839 gegangen ist, als das ihm durch die Tradition der piemon¬
tesischen Politik vorgeschrieben war.




Abhängigkeit zurück, in der die übrige Halbinsel lag, und machte die Italiener
lange Jahre irre an dem einzig richtigen Weg zu ihrer Wiedergeburt. Dieser
innere Widerspruch, der erst nach langen Täuschungen und Irrungen gehoben
werden sollte, ist es, welcher der piemontesischen Politik in diesem Jahrhundert
ihr ganz eigenthümliches Interesse verleiht.

Erst in neuerer Zeit ist das Nähere über die Anstrengungen und Mi߬
erfolge, zwischen welchen die piemontesische Staatskunst so lange hin» und her-
geworfen wurde, bekannt geworden. Farini hat zuerst für seine — leider nur
zu zwei Bänden gediehene Geschichte Italiens seit 1814 (Turin 1854 und 1839) —
aus den in dem piemontesischen Archiv befindlichen Staatsschriften Mittheilungen
gemacht, und man weiß aus Reuchlin und Gervinus, welche Ausbeute hier zu
holen war. Noch ungleich reichhaltiger flössen die Quellen, seitdem auch die
Archive der andern italienischen Staaten zugänglich wurden. Das oben ge¬
nannte Werk von Nicomede Bianchi, auf Grund dessen wir den Entwicklungs¬
gang der piemontesischen Politik seit den wiener Verträgen noch nach mehren
Seiten betrachten werden, beruht auf einem ausgebreiteten diplomatischen Material,
das die Politik der italienischen wie der auswärtigen Höfe, wenn nicht in neuem
Lichte, doch vielfach in schärferen Umrissen und charakteristischen Einzelnheiten
hervortreten läßt. Besonderen Werth erhält es dadurch, daß es nicht blos die
Resultate der archivalischen Forschung in einer summarischen Geschichtserzählung
zusammenfaßt, sondern eine beträchtliche Anzahl von Ackerstücken, etwa die
Hälfte der beiden bisher erschienenen Bände füllend, wörtlich mittheilt. Manches,
was bisher bloße Vermuthung war oder auf das Zeugniß eines vielleicht nicht
ganz unparteiischen Berichterstatters angenommen werden mußte, tritt jetzt in
officieller Beglaubigung ans Tageslicht. Die piemontesische Politik insbesondere
läßt sich als ein zusammenhängendes Ganzes klar überblicken, und wenn schon
dies einen günstigen Eindruck hervorbringen muß, daß die Depeschen der pie¬
montesischen Diplomaten in der Regel Muster staatsmännischer Feinheit, Bered¬
samkeit und Schärfe sind, so mag man zugleich eine Art historischer Rechtfer¬
tigung darin erblicken, daß die Ziele dieser Staatskunst unverändert dieselben
geblieben sind, und Graf Cavour mit keinem andern Programm in den Krieg
von 1839 gegangen ist, als das ihm durch die Tradition der piemon¬
tesischen Politik vorgeschrieben war.




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[0446] Abhängigkeit zurück, in der die übrige Halbinsel lag, und machte die Italiener lange Jahre irre an dem einzig richtigen Weg zu ihrer Wiedergeburt. Dieser innere Widerspruch, der erst nach langen Täuschungen und Irrungen gehoben werden sollte, ist es, welcher der piemontesischen Politik in diesem Jahrhundert ihr ganz eigenthümliches Interesse verleiht. Erst in neuerer Zeit ist das Nähere über die Anstrengungen und Mi߬ erfolge, zwischen welchen die piemontesische Staatskunst so lange hin» und her- geworfen wurde, bekannt geworden. Farini hat zuerst für seine — leider nur zu zwei Bänden gediehene Geschichte Italiens seit 1814 (Turin 1854 und 1839) — aus den in dem piemontesischen Archiv befindlichen Staatsschriften Mittheilungen gemacht, und man weiß aus Reuchlin und Gervinus, welche Ausbeute hier zu holen war. Noch ungleich reichhaltiger flössen die Quellen, seitdem auch die Archive der andern italienischen Staaten zugänglich wurden. Das oben ge¬ nannte Werk von Nicomede Bianchi, auf Grund dessen wir den Entwicklungs¬ gang der piemontesischen Politik seit den wiener Verträgen noch nach mehren Seiten betrachten werden, beruht auf einem ausgebreiteten diplomatischen Material, das die Politik der italienischen wie der auswärtigen Höfe, wenn nicht in neuem Lichte, doch vielfach in schärferen Umrissen und charakteristischen Einzelnheiten hervortreten läßt. Besonderen Werth erhält es dadurch, daß es nicht blos die Resultate der archivalischen Forschung in einer summarischen Geschichtserzählung zusammenfaßt, sondern eine beträchtliche Anzahl von Ackerstücken, etwa die Hälfte der beiden bisher erschienenen Bände füllend, wörtlich mittheilt. Manches, was bisher bloße Vermuthung war oder auf das Zeugniß eines vielleicht nicht ganz unparteiischen Berichterstatters angenommen werden mußte, tritt jetzt in officieller Beglaubigung ans Tageslicht. Die piemontesische Politik insbesondere läßt sich als ein zusammenhängendes Ganzes klar überblicken, und wenn schon dies einen günstigen Eindruck hervorbringen muß, daß die Depeschen der pie¬ montesischen Diplomaten in der Regel Muster staatsmännischer Feinheit, Bered¬ samkeit und Schärfe sind, so mag man zugleich eine Art historischer Rechtfer¬ tigung darin erblicken, daß die Ziele dieser Staatskunst unverändert dieselben geblieben sind, und Graf Cavour mit keinem andern Programm in den Krieg von 1839 gegangen ist, als das ihm durch die Tradition der piemon¬ tesischen Politik vorgeschrieben war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/446>, abgerufen am 27.07.2024.