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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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kunst von diesem Propheten als Dogma. Nimmt man dazu noch, daß diese
Ansicht auch der talmudischen Tradition bekannt ist, daß Josephus sie ausspricht,
daß ferner manche Berührungen in Sprache und Gedanken zwischen den Lie¬
dern und den Weissagungen Jeremias Vorhanden sind, so scheint diese Angabe
so gut wie sicher zu sein. Und welch eine passende Situation stellen uns nun
die oben angeführten Einleitnngsworte der griechischen Uebersetzung vor Augen!
Welch ergreifendes Bild bietet uns der greise Prophet, wie er auf den Trüm¬
mern Jerusalems das Elend bejammert, das er so lange vorhergesehn, das er
vergeblich durch seine Ermahnungen und Bußpredigten von dem ungläubigen
Volk hat abwenden wollen, das so sehr verdient und ihm doch so entsetzlich
schmerzlich ist!

Und dennoch sehen wir uns durch überwiegende Gründe gezwungen, diese
alte Angabe fallen zu lassen. Die poetische Angemessenheit einer solchen Si¬
tuation kann für uns kalte Kritiker hier ebenso wenig als Beweis gelten, wie
sie uns etwa bestimmen kann, die Ueberlieferung über den 90. (für mosaisch
ausgegebnen) Psalm oder, um Beispiele aus neuerer Zeit zu nehmen, über die
specielle Veranlassung von Luthers "Eine feste Burg" oder Paul Gerhardts
"Befiehl du deine Wege" gegen die entscheidenden Gegengründe festzuhalten.
Prüfen wir zuerst die Ueberlieferung selbst näher, so wird das Gewicht ihrer
Zeugnisse bedeutend verringert. Das älteste ist das der griechischen Einleitungs-
wortc, von denen doch durchaus nicht feststeht, baß sie in sehr alte Zeiten hin¬
ausgehen, da unser hebräischer Text keine Spur von einer solchen Angabe hat,
während es doch viel leichter geschehen konnte, daß derartige Worte zu dem
Texte hinzukamen, als aus ihm getilgt wurden. Kein Buchstabe im hebräischen
Text erwähnt Jeremia's, nie hat bei den Juden die Abfassung der Klagelieder
durch ihn die Sicherheit einer mit kirchlicher Auctorität versehenen Tra¬
dition gehabt. Die Angabe im Talmud beruht offenbar ebenso auf bloßer
Vermuthung, wie die in der griechischen Uebersetzung. Daß dem so sei, sehen
wir aus der unmittelbar dabei stehenden und doch, wie jeder sieht, ganz fal¬
schen und aus unglücklicher Conjectur hcrvorgegangnen Behauptung, Jeremia
habe auch die Bücher (oder genauer "das Buch") der Könige geschrieben, sowie
aus einer ganzen Reihe ähnlicher kritikloser Angaben an der betreffenden Stelle.
Die Anfügung der Klagelieder an das Buch des Jeremia wurde blos durch
die Einleitung veranlaßt; sie ist sicher erst geschehen, nachdem beide übersetzt
waren, da sich aus dem Charakter der Uebersetzungen -- die der Klagelieder
ist recht wörtlich, die des Jeremia frei und sehr nachlässig -- die Verschieden¬
heit der Uebersetzer ergiebt. Grade so sind ja im griechischen Text auch noch
entschiedne Apotrypha (Baruch und der Brief Jeremias), an das große Buch
gehängt. Nun sagt freilich Origenes (in Eusebius Kirchengeschichte), daß die
Klagelieder bei den Juden mit dem Buche Jeremias nur ein Buch ausmach-


kunst von diesem Propheten als Dogma. Nimmt man dazu noch, daß diese
Ansicht auch der talmudischen Tradition bekannt ist, daß Josephus sie ausspricht,
daß ferner manche Berührungen in Sprache und Gedanken zwischen den Lie¬
dern und den Weissagungen Jeremias Vorhanden sind, so scheint diese Angabe
so gut wie sicher zu sein. Und welch eine passende Situation stellen uns nun
die oben angeführten Einleitnngsworte der griechischen Uebersetzung vor Augen!
Welch ergreifendes Bild bietet uns der greise Prophet, wie er auf den Trüm¬
mern Jerusalems das Elend bejammert, das er so lange vorhergesehn, das er
vergeblich durch seine Ermahnungen und Bußpredigten von dem ungläubigen
Volk hat abwenden wollen, das so sehr verdient und ihm doch so entsetzlich
schmerzlich ist!

Und dennoch sehen wir uns durch überwiegende Gründe gezwungen, diese
alte Angabe fallen zu lassen. Die poetische Angemessenheit einer solchen Si¬
tuation kann für uns kalte Kritiker hier ebenso wenig als Beweis gelten, wie
sie uns etwa bestimmen kann, die Ueberlieferung über den 90. (für mosaisch
ausgegebnen) Psalm oder, um Beispiele aus neuerer Zeit zu nehmen, über die
specielle Veranlassung von Luthers „Eine feste Burg" oder Paul Gerhardts
„Befiehl du deine Wege" gegen die entscheidenden Gegengründe festzuhalten.
Prüfen wir zuerst die Ueberlieferung selbst näher, so wird das Gewicht ihrer
Zeugnisse bedeutend verringert. Das älteste ist das der griechischen Einleitungs-
wortc, von denen doch durchaus nicht feststeht, baß sie in sehr alte Zeiten hin¬
ausgehen, da unser hebräischer Text keine Spur von einer solchen Angabe hat,
während es doch viel leichter geschehen konnte, daß derartige Worte zu dem
Texte hinzukamen, als aus ihm getilgt wurden. Kein Buchstabe im hebräischen
Text erwähnt Jeremia's, nie hat bei den Juden die Abfassung der Klagelieder
durch ihn die Sicherheit einer mit kirchlicher Auctorität versehenen Tra¬
dition gehabt. Die Angabe im Talmud beruht offenbar ebenso auf bloßer
Vermuthung, wie die in der griechischen Uebersetzung. Daß dem so sei, sehen
wir aus der unmittelbar dabei stehenden und doch, wie jeder sieht, ganz fal¬
schen und aus unglücklicher Conjectur hcrvorgegangnen Behauptung, Jeremia
habe auch die Bücher (oder genauer „das Buch") der Könige geschrieben, sowie
aus einer ganzen Reihe ähnlicher kritikloser Angaben an der betreffenden Stelle.
Die Anfügung der Klagelieder an das Buch des Jeremia wurde blos durch
die Einleitung veranlaßt; sie ist sicher erst geschehen, nachdem beide übersetzt
waren, da sich aus dem Charakter der Uebersetzungen — die der Klagelieder
ist recht wörtlich, die des Jeremia frei und sehr nachlässig — die Verschieden¬
heit der Uebersetzer ergiebt. Grade so sind ja im griechischen Text auch noch
entschiedne Apotrypha (Baruch und der Brief Jeremias), an das große Buch
gehängt. Nun sagt freilich Origenes (in Eusebius Kirchengeschichte), daß die
Klagelieder bei den Juden mit dem Buche Jeremias nur ein Buch ausmach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/416>, abgerufen am 28.07.2024.