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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Von entscheidender Wichtigkeit für die Entwickelung, welche diese von so
mannigfachen Gegensätzen durchwühlte, von gewaltigen Kräften bewegte Zeit
nahm, war die Stellung der Römer in den neuentstehenden germanischen Reichen.

Nicht Wenige sind der irrigen Meinung, daß die Germanen in den Staaten,
welche sie auf den Trümmern des sinkenden römischen Kaisertums während
und nach der sogenannten Völkerwanderung gründeten, die Provincialen überall
wie ein unterworfenes Volk hätten behandeln können. Sie erklären demgemäß
die unläugbare Erscheinung, daß die alten Bewohner von den neuen Ein¬
wanderern in Rechtsgemeinschaft aufgenommen wurden, wodurch beide zu einem
-- romanischen -- Volke verschmolzen, so wie serner, daß die römischen Lebens¬
gewohnheiten und Institutionen einen die germanischen in gewisser Weise
umgestaltenden Einfluß gewannen. lediglich aus der moralischen Macht der
alten, ausgebildeten Cultur der Römer und dem milden hierfür empfänglichen
Sinne der Germanen.

Aber dem ist nicht so. Vielmehr war ein Theil dieser germanischen Staaten
in bestimmten rechtlichen Formen an Rom gekettet, wodurch dem Einfluß des
letzteren mannigfache Wege geöffnet wurden: abgesehn davon, daß die Germanen
schon Jahrhunderte hindurch mit Rom in Verkehr gestanden, daß große Bruch¬
theile des fränkischen und vor allem des gothischen Stammes Rom gedient
hatten, ehe die Staatsgründungcn gelangen, mit denen die neue Geschichte an¬
hebt, welche an Stelle des einzigen Culturstaats, der weltherrschenden Noma,
eine Gruppe neben einander stehender Reiche kennt, die von einer gleichartigen
Cultur erfüllt sind.

Man muß von vornherein unter jenen germanischen Staaten zwei Arten
unterscheiden. Die einen wurden gegründet, indem Rom das dazu erforderliche
Gebiet abtrat und ausdrücklich in die Einrichtung des neuen Staatswesens
willigte. So entstanden namentlich das Reich der Burgunden in der Rhone-
landschaft (Lyon, Vienne, Genf als Hauptstädte) das der Westgothen im süd¬
westlichen Frankreich, dem Gebiet der Garonne, und das der Ostgothen in
Italien.

Ein Vertrag regelte die den Provincialen verbleibenden Rechte, namentlich
die Theilung des Grundbesitzes zwischen den alten und neuen Bewohnern und
zugleich die Pflichten, welche der neue Staat gegen Rom übernahm.

Die staatsrechtliche Theorie betrachtete diese Lande als noch zugehörig zu
dem Imperium des Kaisers, ja einige Forscher wollen die Könige dieser Staaten
gradezu als römische Beamte ansehen.

Allein mit Beamten schließt man keinen Vertrag über das, was sie leisten
sollen, und wenn die Könige der Burgunden römische Titel führen, einige selbst
vorzugsweise von den Schriftstellern jener Zeit Magister Militum und Patricius
genannt werden, so freute sich auch Chlvdwech, der niemals in einem Staats-


Von entscheidender Wichtigkeit für die Entwickelung, welche diese von so
mannigfachen Gegensätzen durchwühlte, von gewaltigen Kräften bewegte Zeit
nahm, war die Stellung der Römer in den neuentstehenden germanischen Reichen.

Nicht Wenige sind der irrigen Meinung, daß die Germanen in den Staaten,
welche sie auf den Trümmern des sinkenden römischen Kaisertums während
und nach der sogenannten Völkerwanderung gründeten, die Provincialen überall
wie ein unterworfenes Volk hätten behandeln können. Sie erklären demgemäß
die unläugbare Erscheinung, daß die alten Bewohner von den neuen Ein¬
wanderern in Rechtsgemeinschaft aufgenommen wurden, wodurch beide zu einem
— romanischen — Volke verschmolzen, so wie serner, daß die römischen Lebens¬
gewohnheiten und Institutionen einen die germanischen in gewisser Weise
umgestaltenden Einfluß gewannen. lediglich aus der moralischen Macht der
alten, ausgebildeten Cultur der Römer und dem milden hierfür empfänglichen
Sinne der Germanen.

Aber dem ist nicht so. Vielmehr war ein Theil dieser germanischen Staaten
in bestimmten rechtlichen Formen an Rom gekettet, wodurch dem Einfluß des
letzteren mannigfache Wege geöffnet wurden: abgesehn davon, daß die Germanen
schon Jahrhunderte hindurch mit Rom in Verkehr gestanden, daß große Bruch¬
theile des fränkischen und vor allem des gothischen Stammes Rom gedient
hatten, ehe die Staatsgründungcn gelangen, mit denen die neue Geschichte an¬
hebt, welche an Stelle des einzigen Culturstaats, der weltherrschenden Noma,
eine Gruppe neben einander stehender Reiche kennt, die von einer gleichartigen
Cultur erfüllt sind.

Man muß von vornherein unter jenen germanischen Staaten zwei Arten
unterscheiden. Die einen wurden gegründet, indem Rom das dazu erforderliche
Gebiet abtrat und ausdrücklich in die Einrichtung des neuen Staatswesens
willigte. So entstanden namentlich das Reich der Burgunden in der Rhone-
landschaft (Lyon, Vienne, Genf als Hauptstädte) das der Westgothen im süd¬
westlichen Frankreich, dem Gebiet der Garonne, und das der Ostgothen in
Italien.

Ein Vertrag regelte die den Provincialen verbleibenden Rechte, namentlich
die Theilung des Grundbesitzes zwischen den alten und neuen Bewohnern und
zugleich die Pflichten, welche der neue Staat gegen Rom übernahm.

Die staatsrechtliche Theorie betrachtete diese Lande als noch zugehörig zu
dem Imperium des Kaisers, ja einige Forscher wollen die Könige dieser Staaten
gradezu als römische Beamte ansehen.

Allein mit Beamten schließt man keinen Vertrag über das, was sie leisten
sollen, und wenn die Könige der Burgunden römische Titel führen, einige selbst
vorzugsweise von den Schriftstellern jener Zeit Magister Militum und Patricius
genannt werden, so freute sich auch Chlvdwech, der niemals in einem Staats-


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[0194] Von entscheidender Wichtigkeit für die Entwickelung, welche diese von so mannigfachen Gegensätzen durchwühlte, von gewaltigen Kräften bewegte Zeit nahm, war die Stellung der Römer in den neuentstehenden germanischen Reichen. Nicht Wenige sind der irrigen Meinung, daß die Germanen in den Staaten, welche sie auf den Trümmern des sinkenden römischen Kaisertums während und nach der sogenannten Völkerwanderung gründeten, die Provincialen überall wie ein unterworfenes Volk hätten behandeln können. Sie erklären demgemäß die unläugbare Erscheinung, daß die alten Bewohner von den neuen Ein¬ wanderern in Rechtsgemeinschaft aufgenommen wurden, wodurch beide zu einem — romanischen — Volke verschmolzen, so wie serner, daß die römischen Lebens¬ gewohnheiten und Institutionen einen die germanischen in gewisser Weise umgestaltenden Einfluß gewannen. lediglich aus der moralischen Macht der alten, ausgebildeten Cultur der Römer und dem milden hierfür empfänglichen Sinne der Germanen. Aber dem ist nicht so. Vielmehr war ein Theil dieser germanischen Staaten in bestimmten rechtlichen Formen an Rom gekettet, wodurch dem Einfluß des letzteren mannigfache Wege geöffnet wurden: abgesehn davon, daß die Germanen schon Jahrhunderte hindurch mit Rom in Verkehr gestanden, daß große Bruch¬ theile des fränkischen und vor allem des gothischen Stammes Rom gedient hatten, ehe die Staatsgründungcn gelangen, mit denen die neue Geschichte an¬ hebt, welche an Stelle des einzigen Culturstaats, der weltherrschenden Noma, eine Gruppe neben einander stehender Reiche kennt, die von einer gleichartigen Cultur erfüllt sind. Man muß von vornherein unter jenen germanischen Staaten zwei Arten unterscheiden. Die einen wurden gegründet, indem Rom das dazu erforderliche Gebiet abtrat und ausdrücklich in die Einrichtung des neuen Staatswesens willigte. So entstanden namentlich das Reich der Burgunden in der Rhone- landschaft (Lyon, Vienne, Genf als Hauptstädte) das der Westgothen im süd¬ westlichen Frankreich, dem Gebiet der Garonne, und das der Ostgothen in Italien. Ein Vertrag regelte die den Provincialen verbleibenden Rechte, namentlich die Theilung des Grundbesitzes zwischen den alten und neuen Bewohnern und zugleich die Pflichten, welche der neue Staat gegen Rom übernahm. Die staatsrechtliche Theorie betrachtete diese Lande als noch zugehörig zu dem Imperium des Kaisers, ja einige Forscher wollen die Könige dieser Staaten gradezu als römische Beamte ansehen. Allein mit Beamten schließt man keinen Vertrag über das, was sie leisten sollen, und wenn die Könige der Burgunden römische Titel führen, einige selbst vorzugsweise von den Schriftstellern jener Zeit Magister Militum und Patricius genannt werden, so freute sich auch Chlvdwech, der niemals in einem Staats-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/194>, abgerufen am 01.09.2024.