Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nisses nöthig ist. Absätze müssen sich in jedem irgend längeren Liede finden, nicht
ober Strophen.

Von einer weiteren Versform ist in der hebräischen Poesie nicht die Rede.
Zwar redet Josephus zu seinen griechischen Lesern von hebräischen Hexametern
und andern Versmaßen, ohne welche sich jene so wenig eine Poesie hätten
denken können, wie die Araber eine solche ohne Metrum und Nenn: aber dies
ist nur wieder einer der zahlreichen Fälle, in denen der eitle Schriftsteller jüdische
Dinge in ein hellenisches Licht zu nicken sucht, um zu zeigen, daß seine Nation
im Grunde doch ebenso gebildet sei, als die Heiden. Freilich hat sich, bis in
die neuesten Zeiten Mancher durch solche Angaben täuschen lassen und die Vers¬
maße der hebräischen Gedichte nachweisen wollen, aber es läßt sich aus sprach
lieben Gründen vollständig darthun, daß ein solches Bestreben durchaus ver¬
kehrt ist.

Ungehemmt durch schwierige Formen kann sich also der hebräische Lyriker
in der freien Darstellung dessen ergehen, was ihm das Innere bewegt. Wie¬
sehr ihnen im Ganzen dieser Ausdruck gelungen ist, wie gewaltig manche dieser
lyrischen Lieder noch jetzt unser Gemüth ergreifen, mögen uns auch Jahrtausende
von den Dichtern scheiden und unsere ganze Anschauung der ihrigen unend¬
lich fern stehn, das bedarf hier keiner weiteren Auseinandersetzung, da wenigstens
die Hauptsammlung derselben, der Psalter, immer noch das am meisten ver¬
breitete und bekannte Buch des Alten Testamentes ist.

Wir denken bei hebräischer Lyrik zunächst 'an religiöse und beachten kaum,
daß selbst unsere Urkunden noch Lieder weltlichen Inhalts umfassen. Die Be¬
deutung des israelitischen Volks für die Geschichte ist so vorwiegend eine religiöse
und wird von ihm selbst so sehr als eine solche aufgefaßt, daß es uns fast nur
solche Urkunden und Geisteserzeugnisse aufbewahrt hat, welche mit seiner Re¬
ligion und deren Geschichte in einem Zusammenhang stehn. Nur beiläufig ist
uns Einzelnes erhalten, was ursprünglich gar keine religiösen Beziehungen hatte;
mehr schon Solches, dessen religiöse Bedeutung nur eine secundäre war. So
besitzen wir denn auch noch aus alter Zeit einige weltliche Lieder von hebräischen
Dichtern und haben ferner Anhaltspunkte genug, um wenigstens bis zur Zeit
der ersten Zerstörung Jerusalems .eine reiche weltliche Lyrik bei dem Volke
Gottes vorauszusetzen. Die mit Musik begleiteten wieder der Weintrinker, auf
welche der Prophet Amos (6, 5) einen tadelnden Blick wirft (vgl. auch Ich. 5, 12)
führen uns in ein Gebiet ein, auf welchem sich die Lyriker der meisten Völker
ergangen haben. Hebräische Liebeslieder sind uns zwar nicht überliefert, aber
das Hohe Lied Salomos,. obwohl ein Drama, bietet uns den Reflex einer reichen
erotischen Dichtung. Sieges- und Trauerliedcr ohne religiöse Beziehung sind
uns noch einzeln erhalten, und so können wir nicht zweifeln, daß der leiden¬
schaftliche, sinnliche, phantasievolle Hebräer eine ganze Welt mit seinen Liedern


nisses nöthig ist. Absätze müssen sich in jedem irgend längeren Liede finden, nicht
ober Strophen.

Von einer weiteren Versform ist in der hebräischen Poesie nicht die Rede.
Zwar redet Josephus zu seinen griechischen Lesern von hebräischen Hexametern
und andern Versmaßen, ohne welche sich jene so wenig eine Poesie hätten
denken können, wie die Araber eine solche ohne Metrum und Nenn: aber dies
ist nur wieder einer der zahlreichen Fälle, in denen der eitle Schriftsteller jüdische
Dinge in ein hellenisches Licht zu nicken sucht, um zu zeigen, daß seine Nation
im Grunde doch ebenso gebildet sei, als die Heiden. Freilich hat sich, bis in
die neuesten Zeiten Mancher durch solche Angaben täuschen lassen und die Vers¬
maße der hebräischen Gedichte nachweisen wollen, aber es läßt sich aus sprach
lieben Gründen vollständig darthun, daß ein solches Bestreben durchaus ver¬
kehrt ist.

Ungehemmt durch schwierige Formen kann sich also der hebräische Lyriker
in der freien Darstellung dessen ergehen, was ihm das Innere bewegt. Wie¬
sehr ihnen im Ganzen dieser Ausdruck gelungen ist, wie gewaltig manche dieser
lyrischen Lieder noch jetzt unser Gemüth ergreifen, mögen uns auch Jahrtausende
von den Dichtern scheiden und unsere ganze Anschauung der ihrigen unend¬
lich fern stehn, das bedarf hier keiner weiteren Auseinandersetzung, da wenigstens
die Hauptsammlung derselben, der Psalter, immer noch das am meisten ver¬
breitete und bekannte Buch des Alten Testamentes ist.

Wir denken bei hebräischer Lyrik zunächst 'an religiöse und beachten kaum,
daß selbst unsere Urkunden noch Lieder weltlichen Inhalts umfassen. Die Be¬
deutung des israelitischen Volks für die Geschichte ist so vorwiegend eine religiöse
und wird von ihm selbst so sehr als eine solche aufgefaßt, daß es uns fast nur
solche Urkunden und Geisteserzeugnisse aufbewahrt hat, welche mit seiner Re¬
ligion und deren Geschichte in einem Zusammenhang stehn. Nur beiläufig ist
uns Einzelnes erhalten, was ursprünglich gar keine religiösen Beziehungen hatte;
mehr schon Solches, dessen religiöse Bedeutung nur eine secundäre war. So
besitzen wir denn auch noch aus alter Zeit einige weltliche Lieder von hebräischen
Dichtern und haben ferner Anhaltspunkte genug, um wenigstens bis zur Zeit
der ersten Zerstörung Jerusalems .eine reiche weltliche Lyrik bei dem Volke
Gottes vorauszusetzen. Die mit Musik begleiteten wieder der Weintrinker, auf
welche der Prophet Amos (6, 5) einen tadelnden Blick wirft (vgl. auch Ich. 5, 12)
führen uns in ein Gebiet ein, auf welchem sich die Lyriker der meisten Völker
ergangen haben. Hebräische Liebeslieder sind uns zwar nicht überliefert, aber
das Hohe Lied Salomos,. obwohl ein Drama, bietet uns den Reflex einer reichen
erotischen Dichtung. Sieges- und Trauerliedcr ohne religiöse Beziehung sind
uns noch einzeln erhalten, und so können wir nicht zweifeln, daß der leiden¬
schaftliche, sinnliche, phantasievolle Hebräer eine ganze Welt mit seinen Liedern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285164"/>
          <p xml:id="ID_306" prev="#ID_305"> nisses nöthig ist. Absätze müssen sich in jedem irgend längeren Liede finden, nicht<lb/>
ober Strophen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_307"> Von einer weiteren Versform ist in der hebräischen Poesie nicht die Rede.<lb/>
Zwar redet Josephus zu seinen griechischen Lesern von hebräischen Hexametern<lb/>
und andern Versmaßen, ohne welche sich jene so wenig eine Poesie hätten<lb/>
denken können, wie die Araber eine solche ohne Metrum und Nenn: aber dies<lb/>
ist nur wieder einer der zahlreichen Fälle, in denen der eitle Schriftsteller jüdische<lb/>
Dinge in ein hellenisches Licht zu nicken sucht, um zu zeigen, daß seine Nation<lb/>
im Grunde doch ebenso gebildet sei, als die Heiden. Freilich hat sich, bis in<lb/>
die neuesten Zeiten Mancher durch solche Angaben täuschen lassen und die Vers¬<lb/>
maße der hebräischen Gedichte nachweisen wollen, aber es läßt sich aus sprach<lb/>
lieben Gründen vollständig darthun, daß ein solches Bestreben durchaus ver¬<lb/>
kehrt ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_308"> Ungehemmt durch schwierige Formen kann sich also der hebräische Lyriker<lb/>
in der freien Darstellung dessen ergehen, was ihm das Innere bewegt. Wie¬<lb/>
sehr ihnen im Ganzen dieser Ausdruck gelungen ist, wie gewaltig manche dieser<lb/>
lyrischen Lieder noch jetzt unser Gemüth ergreifen, mögen uns auch Jahrtausende<lb/>
von den Dichtern scheiden und unsere ganze Anschauung der ihrigen unend¬<lb/>
lich fern stehn, das bedarf hier keiner weiteren Auseinandersetzung, da wenigstens<lb/>
die Hauptsammlung derselben, der Psalter, immer noch das am meisten ver¬<lb/>
breitete und bekannte Buch des Alten Testamentes ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_309" next="#ID_310"> Wir denken bei hebräischer Lyrik zunächst 'an religiöse und beachten kaum,<lb/>
daß selbst unsere Urkunden noch Lieder weltlichen Inhalts umfassen. Die Be¬<lb/>
deutung des israelitischen Volks für die Geschichte ist so vorwiegend eine religiöse<lb/>
und wird von ihm selbst so sehr als eine solche aufgefaßt, daß es uns fast nur<lb/>
solche Urkunden und Geisteserzeugnisse aufbewahrt hat, welche mit seiner Re¬<lb/>
ligion und deren Geschichte in einem Zusammenhang stehn. Nur beiläufig ist<lb/>
uns Einzelnes erhalten, was ursprünglich gar keine religiösen Beziehungen hatte;<lb/>
mehr schon Solches, dessen religiöse Bedeutung nur eine secundäre war. So<lb/>
besitzen wir denn auch noch aus alter Zeit einige weltliche Lieder von hebräischen<lb/>
Dichtern und haben ferner Anhaltspunkte genug, um wenigstens bis zur Zeit<lb/>
der ersten Zerstörung Jerusalems .eine reiche weltliche Lyrik bei dem Volke<lb/>
Gottes vorauszusetzen. Die mit Musik begleiteten wieder der Weintrinker, auf<lb/>
welche der Prophet Amos (6, 5) einen tadelnden Blick wirft (vgl. auch Ich. 5, 12)<lb/>
führen uns in ein Gebiet ein, auf welchem sich die Lyriker der meisten Völker<lb/>
ergangen haben. Hebräische Liebeslieder sind uns zwar nicht überliefert, aber<lb/>
das Hohe Lied Salomos,. obwohl ein Drama, bietet uns den Reflex einer reichen<lb/>
erotischen Dichtung. Sieges- und Trauerliedcr ohne religiöse Beziehung sind<lb/>
uns noch einzeln erhalten, und so können wir nicht zweifeln, daß der leiden¬<lb/>
schaftliche, sinnliche, phantasievolle Hebräer eine ganze Welt mit seinen Liedern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0138] nisses nöthig ist. Absätze müssen sich in jedem irgend längeren Liede finden, nicht ober Strophen. Von einer weiteren Versform ist in der hebräischen Poesie nicht die Rede. Zwar redet Josephus zu seinen griechischen Lesern von hebräischen Hexametern und andern Versmaßen, ohne welche sich jene so wenig eine Poesie hätten denken können, wie die Araber eine solche ohne Metrum und Nenn: aber dies ist nur wieder einer der zahlreichen Fälle, in denen der eitle Schriftsteller jüdische Dinge in ein hellenisches Licht zu nicken sucht, um zu zeigen, daß seine Nation im Grunde doch ebenso gebildet sei, als die Heiden. Freilich hat sich, bis in die neuesten Zeiten Mancher durch solche Angaben täuschen lassen und die Vers¬ maße der hebräischen Gedichte nachweisen wollen, aber es läßt sich aus sprach lieben Gründen vollständig darthun, daß ein solches Bestreben durchaus ver¬ kehrt ist. Ungehemmt durch schwierige Formen kann sich also der hebräische Lyriker in der freien Darstellung dessen ergehen, was ihm das Innere bewegt. Wie¬ sehr ihnen im Ganzen dieser Ausdruck gelungen ist, wie gewaltig manche dieser lyrischen Lieder noch jetzt unser Gemüth ergreifen, mögen uns auch Jahrtausende von den Dichtern scheiden und unsere ganze Anschauung der ihrigen unend¬ lich fern stehn, das bedarf hier keiner weiteren Auseinandersetzung, da wenigstens die Hauptsammlung derselben, der Psalter, immer noch das am meisten ver¬ breitete und bekannte Buch des Alten Testamentes ist. Wir denken bei hebräischer Lyrik zunächst 'an religiöse und beachten kaum, daß selbst unsere Urkunden noch Lieder weltlichen Inhalts umfassen. Die Be¬ deutung des israelitischen Volks für die Geschichte ist so vorwiegend eine religiöse und wird von ihm selbst so sehr als eine solche aufgefaßt, daß es uns fast nur solche Urkunden und Geisteserzeugnisse aufbewahrt hat, welche mit seiner Re¬ ligion und deren Geschichte in einem Zusammenhang stehn. Nur beiläufig ist uns Einzelnes erhalten, was ursprünglich gar keine religiösen Beziehungen hatte; mehr schon Solches, dessen religiöse Bedeutung nur eine secundäre war. So besitzen wir denn auch noch aus alter Zeit einige weltliche Lieder von hebräischen Dichtern und haben ferner Anhaltspunkte genug, um wenigstens bis zur Zeit der ersten Zerstörung Jerusalems .eine reiche weltliche Lyrik bei dem Volke Gottes vorauszusetzen. Die mit Musik begleiteten wieder der Weintrinker, auf welche der Prophet Amos (6, 5) einen tadelnden Blick wirft (vgl. auch Ich. 5, 12) führen uns in ein Gebiet ein, auf welchem sich die Lyriker der meisten Völker ergangen haben. Hebräische Liebeslieder sind uns zwar nicht überliefert, aber das Hohe Lied Salomos,. obwohl ein Drama, bietet uns den Reflex einer reichen erotischen Dichtung. Sieges- und Trauerliedcr ohne religiöse Beziehung sind uns noch einzeln erhalten, und so können wir nicht zweifeln, daß der leiden¬ schaftliche, sinnliche, phantasievolle Hebräer eine ganze Welt mit seinen Liedern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/138
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/138>, abgerufen am 01.09.2024.