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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Vollendung der Dogmenschöpfung ihr Werk für gethan angesehen hatte, so
hatten in der letzten Periode der alten Welt auch die weltlichen Wissenschaften,
die nun mit der Theologie in Verbindung gebracht und bald nur als Vorschule
derselben betrachtet wurden, für im Wesentlichen abgeschlossen gegolten, und
diese Ansicht blieb im Mittelalter die herrschende. Man konnte bei deme
Aufwand von Arbeit, welchen die Bewältigung der Tradition erforderte, nicht
mehr thun, als sie gründlich durchdringen, und man brauchte nicht mehr zu
thun. Man konnte die Wissenschaften mit dem Gedächtniß lernen, sie verfeinern,
nicht aber sie erweitern. Die Scholastik hat in der sehr künstlichen und seinen
Ausbildung der formalen Seite des Denkens, der Logik und Dialektik, die ihr
Hauptwerk war, Werthvolles für die Nachwelt hinterlassen, und sie hat den
neuen Völkern die geistigen Güter der alten, so weit sie ihr geboten waren,
wirklich gewonnen und bewahrt. Aber damit sind idre Verdienste auch alle
aufgezählt. Ein in die Breite auszweigendes Leben war in ihrem Wissen
nicht. Die Früchte, die der allerdings unendlich sich verästelnde Stamm trug,
waren Formeln ohne Inhalt. Was die einzelnen Disciplinen zu Tage för¬
derten, war eine in Definitionen und Sentenzen ein für alle Mal niedergelegte,
rein an das Gedächtniß sich wendende Schulweisheit, die, vornZeit zu Zeit
neu durchgesehen, zerlegt und wieder geordnet oder auch neu bewiesen, in Com-
pendien und Encyklopädien aufgehoben und weiter verbreitet wurde.

. Und wie der Inhalt der Wissenschaft so auch die Methode des Unterrichts,
die sich das ganze Mittelalter hindurch niemals weit von dem entfernte, was
schon der heidnische Grammatiker Macrobius aufgestellt hatte. Selbst die von
den Klosterschulen und dann von den Universitäten beobachtete Eintheilung der
Lehrgegenstände in sieben Fächer und die Sonderung dieser wieder in zwei
Classen, eine niedere vorbereitende und eine höhere vollendende, findet sich be¬
reits bei diesem Schriftsteller. Die überlieferte Philosophie war das Werk einer
grübelnden und träumenden Phantasie. Man brachte sie mit den Lehren der
Kirche und mit den hierarchischen und aristokratischen Verhältnissen, welche unter
den germanischen Nationen entstanden, sowie frühzeitig auch mit den exacten
Wissenschaften in Verbindung, und die letztere naturwidrige und somit schädliche
Vermischung erhielt sich Jahrhunderte hindurch, namentlich in Bezug auf Natur¬
kunde und Mathematik. Erst sehr spät traten diese Disciplinen auf das Ge¬
biet der Empirie zurück. In der Zwischenzeit herrschte in der Mathematik ein
aus traditionellen Erfahrungssätzen, Phantasiegespinnsten und logischen Schlüssen
zusammengesetztes wundersames System, welches auf die meisten andern Wissen¬
schaften und Künste, auf die Theologie, den Cultus und selbst aus die Musik
angewendet wurde.

Einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Schulen und Universitäten des
abendländischen Mittelalters wie auf das ganze höhere Leben dieser Periode


Vollendung der Dogmenschöpfung ihr Werk für gethan angesehen hatte, so
hatten in der letzten Periode der alten Welt auch die weltlichen Wissenschaften,
die nun mit der Theologie in Verbindung gebracht und bald nur als Vorschule
derselben betrachtet wurden, für im Wesentlichen abgeschlossen gegolten, und
diese Ansicht blieb im Mittelalter die herrschende. Man konnte bei deme
Aufwand von Arbeit, welchen die Bewältigung der Tradition erforderte, nicht
mehr thun, als sie gründlich durchdringen, und man brauchte nicht mehr zu
thun. Man konnte die Wissenschaften mit dem Gedächtniß lernen, sie verfeinern,
nicht aber sie erweitern. Die Scholastik hat in der sehr künstlichen und seinen
Ausbildung der formalen Seite des Denkens, der Logik und Dialektik, die ihr
Hauptwerk war, Werthvolles für die Nachwelt hinterlassen, und sie hat den
neuen Völkern die geistigen Güter der alten, so weit sie ihr geboten waren,
wirklich gewonnen und bewahrt. Aber damit sind idre Verdienste auch alle
aufgezählt. Ein in die Breite auszweigendes Leben war in ihrem Wissen
nicht. Die Früchte, die der allerdings unendlich sich verästelnde Stamm trug,
waren Formeln ohne Inhalt. Was die einzelnen Disciplinen zu Tage för¬
derten, war eine in Definitionen und Sentenzen ein für alle Mal niedergelegte,
rein an das Gedächtniß sich wendende Schulweisheit, die, vornZeit zu Zeit
neu durchgesehen, zerlegt und wieder geordnet oder auch neu bewiesen, in Com-
pendien und Encyklopädien aufgehoben und weiter verbreitet wurde.

. Und wie der Inhalt der Wissenschaft so auch die Methode des Unterrichts,
die sich das ganze Mittelalter hindurch niemals weit von dem entfernte, was
schon der heidnische Grammatiker Macrobius aufgestellt hatte. Selbst die von
den Klosterschulen und dann von den Universitäten beobachtete Eintheilung der
Lehrgegenstände in sieben Fächer und die Sonderung dieser wieder in zwei
Classen, eine niedere vorbereitende und eine höhere vollendende, findet sich be¬
reits bei diesem Schriftsteller. Die überlieferte Philosophie war das Werk einer
grübelnden und träumenden Phantasie. Man brachte sie mit den Lehren der
Kirche und mit den hierarchischen und aristokratischen Verhältnissen, welche unter
den germanischen Nationen entstanden, sowie frühzeitig auch mit den exacten
Wissenschaften in Verbindung, und die letztere naturwidrige und somit schädliche
Vermischung erhielt sich Jahrhunderte hindurch, namentlich in Bezug auf Natur¬
kunde und Mathematik. Erst sehr spät traten diese Disciplinen auf das Ge¬
biet der Empirie zurück. In der Zwischenzeit herrschte in der Mathematik ein
aus traditionellen Erfahrungssätzen, Phantasiegespinnsten und logischen Schlüssen
zusammengesetztes wundersames System, welches auf die meisten andern Wissen¬
schaften und Künste, auf die Theologie, den Cultus und selbst aus die Musik
angewendet wurde.

Einen sehr bedeutenden Einfluß auf die Schulen und Universitäten des
abendländischen Mittelalters wie auf das ganze höhere Leben dieser Periode


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/484>, abgerufen am 01.07.2024.