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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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geworden sei als das Lob. Wo er aber im Anfange dieses Jahrhunderts unter den
Schwachen ein stärkeres Regen fand, hat er wohl verstanden, dasselbe nach Gebühr
zu würdigen. Er nimmt den wärmsten Antheil an dem Schaffen Heinrichs von
Kleist, und es ist nicht möglich, würdiger und patriotischer die Erhebung der Nation
nach dem Jahre 1807 zu fassen, als er gethan. Wo er eine angeborene
Kraft sah, welche nach irgendeiner Richtung imponirte, war sein Eingehen in
das Detail ihres Schaffens durchaus liebevoll. Strenge und abweisend übte
er sein Amt nur da, wo er Kraftlosigkeit empfand oder eine Richtung bekämpfte,
die er für unkünstlerisch und undeutsch und deshalb für gemeinschädlich ansah.

Ungefährlich ist seitdem die unmännliche Poesie unserer nächsten Ver¬
gangenheit geworden. Wie man auch die Kraft der jetzt lebenden Dichter und
Denker beurtheilen mag, unzweifelhaft ist, daß fast alle bestrebt sind, Schönheit
und Wahrheit aus den realen Verhältnissen unserer Zeit und unseres Volksthums
heraufzuholen. Wir fühlen uns der Zeit vor 1848 so entfremdet, als läge sie
hundert Jahre vor uns. Wer jetzt zufällig ein belletristisches Blatt aus jener
Periode in die Hand nimmt, der wird vielleicht erstaunen, daß er selbst jemalen
mit Theilnahme dergleichen gelesen. Der Stil ist ein anderer geworden, die
Tagesinteressen sind gänzlich andere, die kindische Selbstgefälligkeit und der
schwächliche Witz, womit nichtige Verhältnisse besprochen wurden, sind ver¬
schwunden. In Romanen und Novellen findet jedermann solche Helden er¬
bärmlich, welche von Dichtern mit den höchsten Ansprüchen ausstaffirt werden
und sich als Tröpfe oder Lumpe benehmen, sobald sie in dem Gedicht etwas
zu thun genöthigt sind. Es sind kaum zwei Decennien seit jenem verhängniß-
vollen Jahre vergangen, aber auch in den Personen der Dichter ist ein großer
Wechsel eingetreten. Tieck, Eichendorff, Uhland sind todt, das Geschlecht der
Jungdeutschen hat sich zurückgezogen oder wandelt in andern Richtungen, der
übermäßige Einfluß der Franzosen und Engländer hat aufgehört. -- Dagegen hat
sich allgemeine, zuweilen leidenschaftliche Theilnahme der großen Literaturperiode
Goethes und Schillers zugewendet. Lessing, Schiller, Goethe sind seit dem
Erwachen nationalen Selbstgefühls Helden der Nation geworden, welche zur
Zeit unsere Armuth an politischen Heldengrößen ersetzen müssen. Zahlreich
sind die Standbilder und Gedenksteine, die man ihnen errichtet hat, noch zahl¬
reicher die Schriften, in welchen die Schönheiten ihrer Werke analvsirt werden,
die Bedeutung ihrer Culturthätigkeit für die Nation untersucht wird. Wir
fühlen der nächsten Vergangenheit gegenüber nicht mehr in erster Reihe den
Gegensatz zu unserem Schaffen, die Verschiedenheit in den künstlerischen und
ethischen Grundlagen ihrer und unserer Werke, auch das Unvollkommene ihrer
Zeit ist uns weniger feindlich geworden, seitdem wir in unserer Bildung andere
Schwächen zu bekämpfen haben, als die Schwächen der Zeit Goethes und
Schillers. Dagegen erkennen wir, wenn wir mit berechtigtem Selbstgefühl unsern


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geworden sei als das Lob. Wo er aber im Anfange dieses Jahrhunderts unter den
Schwachen ein stärkeres Regen fand, hat er wohl verstanden, dasselbe nach Gebühr
zu würdigen. Er nimmt den wärmsten Antheil an dem Schaffen Heinrichs von
Kleist, und es ist nicht möglich, würdiger und patriotischer die Erhebung der Nation
nach dem Jahre 1807 zu fassen, als er gethan. Wo er eine angeborene
Kraft sah, welche nach irgendeiner Richtung imponirte, war sein Eingehen in
das Detail ihres Schaffens durchaus liebevoll. Strenge und abweisend übte
er sein Amt nur da, wo er Kraftlosigkeit empfand oder eine Richtung bekämpfte,
die er für unkünstlerisch und undeutsch und deshalb für gemeinschädlich ansah.

Ungefährlich ist seitdem die unmännliche Poesie unserer nächsten Ver¬
gangenheit geworden. Wie man auch die Kraft der jetzt lebenden Dichter und
Denker beurtheilen mag, unzweifelhaft ist, daß fast alle bestrebt sind, Schönheit
und Wahrheit aus den realen Verhältnissen unserer Zeit und unseres Volksthums
heraufzuholen. Wir fühlen uns der Zeit vor 1848 so entfremdet, als läge sie
hundert Jahre vor uns. Wer jetzt zufällig ein belletristisches Blatt aus jener
Periode in die Hand nimmt, der wird vielleicht erstaunen, daß er selbst jemalen
mit Theilnahme dergleichen gelesen. Der Stil ist ein anderer geworden, die
Tagesinteressen sind gänzlich andere, die kindische Selbstgefälligkeit und der
schwächliche Witz, womit nichtige Verhältnisse besprochen wurden, sind ver¬
schwunden. In Romanen und Novellen findet jedermann solche Helden er¬
bärmlich, welche von Dichtern mit den höchsten Ansprüchen ausstaffirt werden
und sich als Tröpfe oder Lumpe benehmen, sobald sie in dem Gedicht etwas
zu thun genöthigt sind. Es sind kaum zwei Decennien seit jenem verhängniß-
vollen Jahre vergangen, aber auch in den Personen der Dichter ist ein großer
Wechsel eingetreten. Tieck, Eichendorff, Uhland sind todt, das Geschlecht der
Jungdeutschen hat sich zurückgezogen oder wandelt in andern Richtungen, der
übermäßige Einfluß der Franzosen und Engländer hat aufgehört. — Dagegen hat
sich allgemeine, zuweilen leidenschaftliche Theilnahme der großen Literaturperiode
Goethes und Schillers zugewendet. Lessing, Schiller, Goethe sind seit dem
Erwachen nationalen Selbstgefühls Helden der Nation geworden, welche zur
Zeit unsere Armuth an politischen Heldengrößen ersetzen müssen. Zahlreich
sind die Standbilder und Gedenksteine, die man ihnen errichtet hat, noch zahl¬
reicher die Schriften, in welchen die Schönheiten ihrer Werke analvsirt werden,
die Bedeutung ihrer Culturthätigkeit für die Nation untersucht wird. Wir
fühlen der nächsten Vergangenheit gegenüber nicht mehr in erster Reihe den
Gegensatz zu unserem Schaffen, die Verschiedenheit in den künstlerischen und
ethischen Grundlagen ihrer und unserer Werke, auch das Unvollkommene ihrer
Zeit ist uns weniger feindlich geworden, seitdem wir in unserer Bildung andere
Schwächen zu bekämpfen haben, als die Schwächen der Zeit Goethes und
Schillers. Dagegen erkennen wir, wenn wir mit berechtigtem Selbstgefühl unsern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/261>, abgerufen am 22.07.2024.