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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Beseitigung desselben gehenden Bestrebungen vereinzelt und nicht eigentlich po¬
pulär sind. Der Druck desselben ist auch für die Geistlichen selbst empfindlicher
als für den einzelnen Laien. Dort ist allerdings eine geisttötende Uniformität
erzielt worden, die mit der wissenschaftlichen Bewegung, welche eine Zeit lang
von der tübinger Hochschule ausging, im schneidendsten Gegensatz steht. Es
verstand sich ganz von selbst, daß die jungen Leute, wenn sie vier Jahre lang
Hegel, Strauß und Baur studirt hatten, mit dem Amtsrock auch einen neuen
Geist anzogen; mochte jeder sehen, wie er damit fertig wurde. Dagegen war
andrerseits die Kirchenleitung human und weitherzig genug, die Laien in keiner
Weise zu incommodiren, und eben daher kommt es, daß diese so wenig Inter¬
esse an der Aenderung eines Systems zeigen, das sie nicht genirt, ja das sie
vielleicht Mr straffer angezogen zu sehen fürchten, wenn es der Selbstleitung
der Kirche anheimsiele. Daß die Dinge so liegen, muß man wohl beklagen.
Bei dem Einfluß, den die Kirche unläugbar auf große Bevölkerungsmassen aus¬
übt, kann es niemand gleichgiltig sein, wie sie regiert wird. Eine auf Wahlen
der Gemeinden beruhende Vertretung der Kirche würde in jedem Fall ein Ver¬
hältniß der bürgerlichen und der kirchlichen Sphäre einleiten, wie es den rich¬
tigen Principien des Staats sowohl als der Kirche entspricht. Officiellen
Aeußerungen zufolge sollen wir auch wirklich mit einer Landessynode beschenkt
werden; nur würde ohne Zweifel die Institution von Anfang an kräftiger und
lebensfähiger ausfallen, wenn sich eine stärkere öffentliche Meinung dafür geltend
machte. Dem Cultusminister ist früher einmal die Aeußerung entschlüpft, daß
er kein Freund der "experimentirenden" Kirchenpolitik im badischen Nachbarland,
sei, und wenn es in seiner Absicht liegt, dem unverändert fortbestehenden Con-
sistorium die Synode als conirolirende und berathende Behörde beizugesellen,
so dürste es sich für den Anfang um wenig mehr als um eine Scheinconstitution
handeln. Indessen die Hauptsache ist, daß die Kirche überhaupt eigene Organe
ihrer Wahl besitze, und daß sie, indem sie in ihren Organen dem Laienthum
seine Stelle gewährt, aufhöre eine Geistlichkeitskirche zu sein. Besitzt sie diese
Organe, so hat sie an ihnen auch die Mittel, um weitergehende Ziele zu ver¬
folgen. Die Synode wird danach streben ihre Kompetenz zu erweitern, min¬
destens Einfluß aus die Besetzung des Konsistoriums zu erlangen, sie wird die
Abschaffung der Staatsdekanate fordern, und dies sind lauter Schritte auf dem
Weg zur Trennung von Kirche und Staat. Es wird ferner nicht ausbleiben,
daß, wenn eine öffentliche Tribüne vorhanden ist, die theologischen Richtungen
sich individualisiren und schärfer abzeichnen, es werden sich Parteien bilden, die
mit gleichem Recht auf einem gemeinsamen Boden sich gegenüberstehen, und die
Oeffentlichkeit der Debatte, die Bildung von Parteien kann schließlich der Sache
des theologischen und kirchlichen Fortschritts nur förderlich sein. Gedecke durch
die Partei, der ein legitimer Boden gesichert ist, wird auch der Einzelne freier


Grenjboten I. 1866. 20

Beseitigung desselben gehenden Bestrebungen vereinzelt und nicht eigentlich po¬
pulär sind. Der Druck desselben ist auch für die Geistlichen selbst empfindlicher
als für den einzelnen Laien. Dort ist allerdings eine geisttötende Uniformität
erzielt worden, die mit der wissenschaftlichen Bewegung, welche eine Zeit lang
von der tübinger Hochschule ausging, im schneidendsten Gegensatz steht. Es
verstand sich ganz von selbst, daß die jungen Leute, wenn sie vier Jahre lang
Hegel, Strauß und Baur studirt hatten, mit dem Amtsrock auch einen neuen
Geist anzogen; mochte jeder sehen, wie er damit fertig wurde. Dagegen war
andrerseits die Kirchenleitung human und weitherzig genug, die Laien in keiner
Weise zu incommodiren, und eben daher kommt es, daß diese so wenig Inter¬
esse an der Aenderung eines Systems zeigen, das sie nicht genirt, ja das sie
vielleicht Mr straffer angezogen zu sehen fürchten, wenn es der Selbstleitung
der Kirche anheimsiele. Daß die Dinge so liegen, muß man wohl beklagen.
Bei dem Einfluß, den die Kirche unläugbar auf große Bevölkerungsmassen aus¬
übt, kann es niemand gleichgiltig sein, wie sie regiert wird. Eine auf Wahlen
der Gemeinden beruhende Vertretung der Kirche würde in jedem Fall ein Ver¬
hältniß der bürgerlichen und der kirchlichen Sphäre einleiten, wie es den rich¬
tigen Principien des Staats sowohl als der Kirche entspricht. Officiellen
Aeußerungen zufolge sollen wir auch wirklich mit einer Landessynode beschenkt
werden; nur würde ohne Zweifel die Institution von Anfang an kräftiger und
lebensfähiger ausfallen, wenn sich eine stärkere öffentliche Meinung dafür geltend
machte. Dem Cultusminister ist früher einmal die Aeußerung entschlüpft, daß
er kein Freund der „experimentirenden" Kirchenpolitik im badischen Nachbarland,
sei, und wenn es in seiner Absicht liegt, dem unverändert fortbestehenden Con-
sistorium die Synode als conirolirende und berathende Behörde beizugesellen,
so dürste es sich für den Anfang um wenig mehr als um eine Scheinconstitution
handeln. Indessen die Hauptsache ist, daß die Kirche überhaupt eigene Organe
ihrer Wahl besitze, und daß sie, indem sie in ihren Organen dem Laienthum
seine Stelle gewährt, aufhöre eine Geistlichkeitskirche zu sein. Besitzt sie diese
Organe, so hat sie an ihnen auch die Mittel, um weitergehende Ziele zu ver¬
folgen. Die Synode wird danach streben ihre Kompetenz zu erweitern, min¬
destens Einfluß aus die Besetzung des Konsistoriums zu erlangen, sie wird die
Abschaffung der Staatsdekanate fordern, und dies sind lauter Schritte auf dem
Weg zur Trennung von Kirche und Staat. Es wird ferner nicht ausbleiben,
daß, wenn eine öffentliche Tribüne vorhanden ist, die theologischen Richtungen
sich individualisiren und schärfer abzeichnen, es werden sich Parteien bilden, die
mit gleichem Recht auf einem gemeinsamen Boden sich gegenüberstehen, und die
Oeffentlichkeit der Debatte, die Bildung von Parteien kann schließlich der Sache
des theologischen und kirchlichen Fortschritts nur förderlich sein. Gedecke durch
die Partei, der ein legitimer Boden gesichert ist, wird auch der Einzelne freier


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[0165] Beseitigung desselben gehenden Bestrebungen vereinzelt und nicht eigentlich po¬ pulär sind. Der Druck desselben ist auch für die Geistlichen selbst empfindlicher als für den einzelnen Laien. Dort ist allerdings eine geisttötende Uniformität erzielt worden, die mit der wissenschaftlichen Bewegung, welche eine Zeit lang von der tübinger Hochschule ausging, im schneidendsten Gegensatz steht. Es verstand sich ganz von selbst, daß die jungen Leute, wenn sie vier Jahre lang Hegel, Strauß und Baur studirt hatten, mit dem Amtsrock auch einen neuen Geist anzogen; mochte jeder sehen, wie er damit fertig wurde. Dagegen war andrerseits die Kirchenleitung human und weitherzig genug, die Laien in keiner Weise zu incommodiren, und eben daher kommt es, daß diese so wenig Inter¬ esse an der Aenderung eines Systems zeigen, das sie nicht genirt, ja das sie vielleicht Mr straffer angezogen zu sehen fürchten, wenn es der Selbstleitung der Kirche anheimsiele. Daß die Dinge so liegen, muß man wohl beklagen. Bei dem Einfluß, den die Kirche unläugbar auf große Bevölkerungsmassen aus¬ übt, kann es niemand gleichgiltig sein, wie sie regiert wird. Eine auf Wahlen der Gemeinden beruhende Vertretung der Kirche würde in jedem Fall ein Ver¬ hältniß der bürgerlichen und der kirchlichen Sphäre einleiten, wie es den rich¬ tigen Principien des Staats sowohl als der Kirche entspricht. Officiellen Aeußerungen zufolge sollen wir auch wirklich mit einer Landessynode beschenkt werden; nur würde ohne Zweifel die Institution von Anfang an kräftiger und lebensfähiger ausfallen, wenn sich eine stärkere öffentliche Meinung dafür geltend machte. Dem Cultusminister ist früher einmal die Aeußerung entschlüpft, daß er kein Freund der „experimentirenden" Kirchenpolitik im badischen Nachbarland, sei, und wenn es in seiner Absicht liegt, dem unverändert fortbestehenden Con- sistorium die Synode als conirolirende und berathende Behörde beizugesellen, so dürste es sich für den Anfang um wenig mehr als um eine Scheinconstitution handeln. Indessen die Hauptsache ist, daß die Kirche überhaupt eigene Organe ihrer Wahl besitze, und daß sie, indem sie in ihren Organen dem Laienthum seine Stelle gewährt, aufhöre eine Geistlichkeitskirche zu sein. Besitzt sie diese Organe, so hat sie an ihnen auch die Mittel, um weitergehende Ziele zu ver¬ folgen. Die Synode wird danach streben ihre Kompetenz zu erweitern, min¬ destens Einfluß aus die Besetzung des Konsistoriums zu erlangen, sie wird die Abschaffung der Staatsdekanate fordern, und dies sind lauter Schritte auf dem Weg zur Trennung von Kirche und Staat. Es wird ferner nicht ausbleiben, daß, wenn eine öffentliche Tribüne vorhanden ist, die theologischen Richtungen sich individualisiren und schärfer abzeichnen, es werden sich Parteien bilden, die mit gleichem Recht auf einem gemeinsamen Boden sich gegenüberstehen, und die Oeffentlichkeit der Debatte, die Bildung von Parteien kann schließlich der Sache des theologischen und kirchlichen Fortschritts nur förderlich sein. Gedecke durch die Partei, der ein legitimer Boden gesichert ist, wird auch der Einzelne freier Grenjboten I. 1866. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/165>, abgerufen am 29.06.2024.