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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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kam, daß die administrative Centralisation, die unvergleichliche Verwaltung als
eine der herrlichsten und wesentlichsten Errungenschaften der Revolution und
des Kaiserreichs angesehen wurde: an diesen Errungenschaften hält der Franzose
mit einer Zähigkeit fest, die stark genug ist. um den Wechsel aller politischen
Systeme zu überdauern. Nun ist die Meinung allerdings irrig, daß die Cen¬
tralisation ihren Ursprung dem neuen Frankreich verdankt; sie ist bereits im
ancien ivgims in hohem Grade ausgebildet. Sie ist grade deshalb in Frank¬
reich tiefer begründet als irgendein anderes Institut; denn sie hat ihre Wurzel
M der That im alten Frankreich und gilt dabei doch dem politischen Bewußt¬
sein als eine der theuersten Errungenschaften der Revolution. Sie ist von der
Revolution mit in die neue Zeit hinübergenommen und von Napoleon zu dem
kräftigsten lnsel-umenwm regni ausgebildet worden, dessen irgendeine Monarchie
sich rühmen kann. Dies nachgewiesen zu haben ist das Verdienst des zweiten
großen Werkes von Tocqueville, 1'avoiLir r6Ziin<z et 1a revolution. Die Be¬
deutung dieser Thatsache ist aber außerordentlich groß. Während der Geist des
französischen Volkes in socialer Beziehung völlig umgestaltet ist, ist der politische
Geist desselben sehr wenig verändert. Dieselben Regierungsmaximen, welche
die legitime Monarchie befolgte, um jede widerstandsfähige Kraft im Lande auf
das Maß der gleichen, unbedingten Unterthänigkeit zurückzudrängen, sind von
der Republik wie vom Kaiserthum acceptirt worden; und wenn Thiers mit
Entzücken von der napoleonischen Verwaltungshierarchie spricht, so vergißt er,
daß Napoleon eben nur ein tief in den Geist des Staates eingewurzeltes In¬
stitut weiter ausgebildet hat. Hieraus ergiebt sich aber ganz von selbst die
Folgerung, daß eine nicht scheinbare, sondern wirkliche Verbesserung der Zustände
Frankreichs von einer Reform der Verwaltung auszugehen hat; daß weder
ein Dynastienwechsel noch eine Verfassungsänderung, sondern nur eine den
Grundsätzen des Selfgovernment entsprechende Vertheilung eines Theils der
administrativen Functionen auf locale Verwaltungskörper den Geist der Revo¬
lution verdrängen und den Geist politischer Freiheit an seine Stelle zu setzen
vermag. Es gilt eben, den Bruch mit dem alten Frankreich vollständig zu voll¬
ziehen. Will oder kann man dies nicht, so bleibt nichts übrig, als das System
weiter und weiter zu entwickeln und es mit der äußersten Energie und Span¬
nung zu handhaben; denn jedes Nachlassen an dem gewohnten Druck entfesselt
sofort die Geister zum Angriff, nicht gegen diesen oder jenen Mißbrauch, son¬
dern gegen die Gesammtheit der bestehenden Zustände, da. was als vereinzelter
Mißbrauch erscheint, eben nichts ist als eine nothwendige Konsequenz des
Systems. Daher hat die constitutionelle Monarchie in Frankreich keinen dauern¬
den Bestand gewinnen können; denn da sie weder intelligent und entschlossen
genug war. das System völlig umzugestalten, noch auch stark genug, um dem
Andringen der öffentlichen Meinung und der freien Discussion gegenüber es in


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kam, daß die administrative Centralisation, die unvergleichliche Verwaltung als
eine der herrlichsten und wesentlichsten Errungenschaften der Revolution und
des Kaiserreichs angesehen wurde: an diesen Errungenschaften hält der Franzose
mit einer Zähigkeit fest, die stark genug ist. um den Wechsel aller politischen
Systeme zu überdauern. Nun ist die Meinung allerdings irrig, daß die Cen¬
tralisation ihren Ursprung dem neuen Frankreich verdankt; sie ist bereits im
ancien ivgims in hohem Grade ausgebildet. Sie ist grade deshalb in Frank¬
reich tiefer begründet als irgendein anderes Institut; denn sie hat ihre Wurzel
M der That im alten Frankreich und gilt dabei doch dem politischen Bewußt¬
sein als eine der theuersten Errungenschaften der Revolution. Sie ist von der
Revolution mit in die neue Zeit hinübergenommen und von Napoleon zu dem
kräftigsten lnsel-umenwm regni ausgebildet worden, dessen irgendeine Monarchie
sich rühmen kann. Dies nachgewiesen zu haben ist das Verdienst des zweiten
großen Werkes von Tocqueville, 1'avoiLir r6Ziin<z et 1a revolution. Die Be¬
deutung dieser Thatsache ist aber außerordentlich groß. Während der Geist des
französischen Volkes in socialer Beziehung völlig umgestaltet ist, ist der politische
Geist desselben sehr wenig verändert. Dieselben Regierungsmaximen, welche
die legitime Monarchie befolgte, um jede widerstandsfähige Kraft im Lande auf
das Maß der gleichen, unbedingten Unterthänigkeit zurückzudrängen, sind von
der Republik wie vom Kaiserthum acceptirt worden; und wenn Thiers mit
Entzücken von der napoleonischen Verwaltungshierarchie spricht, so vergißt er,
daß Napoleon eben nur ein tief in den Geist des Staates eingewurzeltes In¬
stitut weiter ausgebildet hat. Hieraus ergiebt sich aber ganz von selbst die
Folgerung, daß eine nicht scheinbare, sondern wirkliche Verbesserung der Zustände
Frankreichs von einer Reform der Verwaltung auszugehen hat; daß weder
ein Dynastienwechsel noch eine Verfassungsänderung, sondern nur eine den
Grundsätzen des Selfgovernment entsprechende Vertheilung eines Theils der
administrativen Functionen auf locale Verwaltungskörper den Geist der Revo¬
lution verdrängen und den Geist politischer Freiheit an seine Stelle zu setzen
vermag. Es gilt eben, den Bruch mit dem alten Frankreich vollständig zu voll¬
ziehen. Will oder kann man dies nicht, so bleibt nichts übrig, als das System
weiter und weiter zu entwickeln und es mit der äußersten Energie und Span¬
nung zu handhaben; denn jedes Nachlassen an dem gewohnten Druck entfesselt
sofort die Geister zum Angriff, nicht gegen diesen oder jenen Mißbrauch, son¬
dern gegen die Gesammtheit der bestehenden Zustände, da. was als vereinzelter
Mißbrauch erscheint, eben nichts ist als eine nothwendige Konsequenz des
Systems. Daher hat die constitutionelle Monarchie in Frankreich keinen dauern¬
den Bestand gewinnen können; denn da sie weder intelligent und entschlossen
genug war. das System völlig umzugestalten, noch auch stark genug, um dem
Andringen der öffentlichen Meinung und der freien Discussion gegenüber es in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/387>, abgerufen am 15.01.2025.