Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.dabei glänzend zu bethätigen, sie vermag in einzelnen Scenen auf das Pu¬ Der Lustspieldichter dagegen, welcher Menschennatur reicher und voller zu Vielleicht die Kraft, sicher auch die Freiheit und das Behagen. Wir sind dabei glänzend zu bethätigen, sie vermag in einzelnen Scenen auf das Pu¬ Der Lustspieldichter dagegen, welcher Menschennatur reicher und voller zu Vielleicht die Kraft, sicher auch die Freiheit und das Behagen. Wir sind <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283500"/> <p xml:id="ID_435" prev="#ID_434"> dabei glänzend zu bethätigen, sie vermag in einzelnen Scenen auf das Pu¬<lb/> blikum eine jede andre dramatische Wirkung übertreffende Macht zu gewinnen,<lb/> sie giebt dem Künstler die beste, kaum durch ein andres Genre der Dar¬<lb/> stellung erreichbare Gelegenheit, seinem Volk ein Lehrer der Tugend und Weis¬<lb/> heit zu werden. Und das war Moliöre für seine Zeit, so hoch faßte er selbst<lb/> seinen Beruf, und als aufgeklärter Volkslehrer ist er seit zwei Jahrhunderten<lb/> von seinen Franzosen mit Pietät verehrt worden.</p><lb/> <p xml:id="ID_436"> Der Lustspieldichter dagegen, welcher Menschennatur reicher und voller zu<lb/> fassen sucht, wie Shakespeare vermochte, wie Lessing begann, und wie sich seit<lb/> ihm die kräftigeren Talente der Deutschen bemühen, muß auf die Handlung<lb/> größeres Gewicht legen, ihm erschöpft sich das Interesse nicht in dem mannig¬<lb/> faltigen Anschlag einer und derselben scharstönenden Saite, die innere Bewegung<lb/> seiner Menschen ist nicht nur die einer leidenschaftlichen Erregung, welche mit<lb/> der Situation abschließt, sondern bei ihm soll auf den Charakter auch inner¬<lb/> halb gegebener Grenzen Einwirkung geübt, er soll im Fluß erscheinen, und gewisse<lb/> Wandlungen sollen in ihm vollbracht werden und zu einem Ende führen, welches<lb/> auch dem Charakter einen befreienden Abschluß giebt. Deshalb wird hier<lb/> wieder die Handlung bedeutender, als sie in den Intriguenstücken Moliöres<lb/> war, auch die Hauptpersonen sind in anderer Weise der dramatischen Handlung<lb/> eingeordnet, als bei jenen Charakterstücken. Da liegt nun für ein mäßiges<lb/> Talent die Gefahr nahe, wieder die Anekdote in den Vordergrund zu stellen,<lb/> der Hauptreiz ist das spannende in dem Verlauf der Handlung, das Publicum<lb/> wird vorzugsweise dadurch befriedigt, den Zusammenhang zu erfahren, die<lb/> Schauspieler werden Referenten, welche allerdings in sehr lebendiger Weise<lb/> eine Geschichte vortragen, das Lustspiel ist in Gefahr eine dramatisirte Novelle<lb/> zu werden, wie es in der letzten Zeit Moliöres dramatisirte Satire war. In<lb/> diesem Zeitraum dramatisirter Novellen treibt unser Lustspiel kraftlos einher.<lb/> Und wenn wir deshalb unsere Stellung zu dieser heitersten Kunstgattung kurz<lb/> bezeichnen, so müssen wir sagen, wir haben durch Meliere zuerst gelernt<lb/> scharf zu charakterisiren, wir haben durch Lessing, durch unsere Tragiker und durch<lb/> Einführung Shakespeares in Deutschland gelernt, Charaktere, die unser deutsches<lb/> Gemüth befriedigen, zu schaffen, aber uns hat der Mann gefehlt, welcher den<lb/> gewonnenen Erwerb in großem Sinne für unsere Zeit verwerthete.</p><lb/> <p xml:id="ID_437"> Vielleicht die Kraft, sicher auch die Freiheit und das Behagen. Wir sind<lb/> lange ein stilles und sinniges Volk gewesen, jetzt ist zu dem Ernst und dem<lb/> Nachdenken auch der Eifer und Haß gekommen, wir sind in den Anfängen einer<lb/> großen politischen Erregung, und die Kunst der Darstellung ist ein anspruchs¬<lb/> loses Sonntagsvergnügen der Genügsamen und Mäßigen geworden, die Bühne<lb/> in diesem Augenblick durchaus nicht der Spiegel unserer Zeit und unseres<lb/> Lebens.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0147]
dabei glänzend zu bethätigen, sie vermag in einzelnen Scenen auf das Pu¬
blikum eine jede andre dramatische Wirkung übertreffende Macht zu gewinnen,
sie giebt dem Künstler die beste, kaum durch ein andres Genre der Dar¬
stellung erreichbare Gelegenheit, seinem Volk ein Lehrer der Tugend und Weis¬
heit zu werden. Und das war Moliöre für seine Zeit, so hoch faßte er selbst
seinen Beruf, und als aufgeklärter Volkslehrer ist er seit zwei Jahrhunderten
von seinen Franzosen mit Pietät verehrt worden.
Der Lustspieldichter dagegen, welcher Menschennatur reicher und voller zu
fassen sucht, wie Shakespeare vermochte, wie Lessing begann, und wie sich seit
ihm die kräftigeren Talente der Deutschen bemühen, muß auf die Handlung
größeres Gewicht legen, ihm erschöpft sich das Interesse nicht in dem mannig¬
faltigen Anschlag einer und derselben scharstönenden Saite, die innere Bewegung
seiner Menschen ist nicht nur die einer leidenschaftlichen Erregung, welche mit
der Situation abschließt, sondern bei ihm soll auf den Charakter auch inner¬
halb gegebener Grenzen Einwirkung geübt, er soll im Fluß erscheinen, und gewisse
Wandlungen sollen in ihm vollbracht werden und zu einem Ende führen, welches
auch dem Charakter einen befreienden Abschluß giebt. Deshalb wird hier
wieder die Handlung bedeutender, als sie in den Intriguenstücken Moliöres
war, auch die Hauptpersonen sind in anderer Weise der dramatischen Handlung
eingeordnet, als bei jenen Charakterstücken. Da liegt nun für ein mäßiges
Talent die Gefahr nahe, wieder die Anekdote in den Vordergrund zu stellen,
der Hauptreiz ist das spannende in dem Verlauf der Handlung, das Publicum
wird vorzugsweise dadurch befriedigt, den Zusammenhang zu erfahren, die
Schauspieler werden Referenten, welche allerdings in sehr lebendiger Weise
eine Geschichte vortragen, das Lustspiel ist in Gefahr eine dramatisirte Novelle
zu werden, wie es in der letzten Zeit Moliöres dramatisirte Satire war. In
diesem Zeitraum dramatisirter Novellen treibt unser Lustspiel kraftlos einher.
Und wenn wir deshalb unsere Stellung zu dieser heitersten Kunstgattung kurz
bezeichnen, so müssen wir sagen, wir haben durch Meliere zuerst gelernt
scharf zu charakterisiren, wir haben durch Lessing, durch unsere Tragiker und durch
Einführung Shakespeares in Deutschland gelernt, Charaktere, die unser deutsches
Gemüth befriedigen, zu schaffen, aber uns hat der Mann gefehlt, welcher den
gewonnenen Erwerb in großem Sinne für unsere Zeit verwerthete.
Vielleicht die Kraft, sicher auch die Freiheit und das Behagen. Wir sind
lange ein stilles und sinniges Volk gewesen, jetzt ist zu dem Ernst und dem
Nachdenken auch der Eifer und Haß gekommen, wir sind in den Anfängen einer
großen politischen Erregung, und die Kunst der Darstellung ist ein anspruchs¬
loses Sonntagsvergnügen der Genügsamen und Mäßigen geworden, die Bühne
in diesem Augenblick durchaus nicht der Spiegel unserer Zeit und unseres
Lebens.
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