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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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einen Bethörten so dargestellt, er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen
lassen, in einem und dem andern kleinen Zuge auch Herrn Orgon uns mensch¬
lich näher zu stellen, seine Gutherzigkeit, seine Noblesse zu zeigen. Dadurch
hätte das Stück und die Wirkung nicht verloren, sondern für unsre Empfin¬
dung gewonnen. Wenn wir an den Schicksalen eines Menschen theilnehmen
sollen, seine Verirrungen, seine Verlegenheiten mit behaglicher Theilnahme em¬
pfinden, so muß er uns bis zu einem gewissen Grade, soweit es seine Stellung
im Stück erlaubt, auch nahe gestellt werden. Der lustig spottende Franzose will
nur die Lächerlichkeit oder Verkehrtheit zeigen, während wir das Bedürfniß haben,
den ganzen Menschen vor uns zu sehen. Die Mischung von charakterisirenden
Farben in derselben Person hebt die Wirkung der Hauptfarbe nicht auf, ja sie
erst giebt ihr den vollen Reiz des Lebendigen, den meisten Personen Moliöres
fehlt ein wenig zu sehr diese Mischung zu ihrem dramatischen Leben, eine Farben¬
mischung, welche im Alterthum, soweit uns Kunde davon geblieben, nur einer,
Sophokles, verstanden hat.

Wenn man zugiebt, daß es eine andre Methode der Charakterdarstellung
für das Lustspiel giebt, wo die Handlung nicht vorzugsweise von der Verkehrt¬
heit der Personen abhängig ist, und wo die Charakterschilderung mit allem
Aufwand und Kunst nur diese Verkehrtheit hervorzuheben hat, so ist doch nicht leicht,
Stücke und Dichtertalente anzuführen, in denen sich seitMoliöre ein sicherer Fort¬
schritt des Lustspiels vollzogen hat. Lesstng hat in seiner Minna von Barn¬
helm einen Anlauf genommen, aber es blieb beim Anlauf. Und wie auch er
durch Meliere bestimmt wurde, ist deutlich zu erkennen. Sein Tellheim ent¬
hält mehr als eine Erinnerung an den Misanthrop, auch bei ihm wird am
Schluß die Verwickelung durch den veus ex wackina, den einfallenden Brief
seines großen Königs gelöst, wie im Tartüffe durch die Ordonnanz des großen
Monarchen. Aber allerdings ist in dem deutschen Versuche schon eine andre
Art von Charakterzeichnung als bei dem Franzosen. Der Dichter empfindet
mit größerer Innigkeit die Tiefen des Gemüthslebens in seinen Menschen, der
hervorstechende Charakterzug beherrscht sie nicht mehr in dem Grade, daß nur
auf ihn die Blicke geheftet bleiben, Tellheim ist ein wackrer ritterlicher Mann,
unsres warmen Antheils werth, der nicht nur aus übergroßem Ehrgefühl oder
verletztem Stolz sich von der Welt zurückzieht, sondern der uns auch andre
Seiten seines Wesens zeigt und den Glauben einflößt, daß er wohl seinen
Frieden mit der Welt machen werde, wenn aus seiner Seele entfernt ist, waS
ihm als Stachel von einer erlittenen Kränkung zurückgeblieben ist. Denn
das Stück stellt sich die Aufgabe, in heiterm Spiel die Befreiung des Hel¬
den von dem darzustellen, was seinem edlen Wesen eine leise Beimischung
des Lächerlichen giebt. Gelang es dem Dichter auch nicht vollständig, diese
Idee seines Stückes zur Darstellung zu bringen, wir werden doch warme Theil-


einen Bethörten so dargestellt, er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen
lassen, in einem und dem andern kleinen Zuge auch Herrn Orgon uns mensch¬
lich näher zu stellen, seine Gutherzigkeit, seine Noblesse zu zeigen. Dadurch
hätte das Stück und die Wirkung nicht verloren, sondern für unsre Empfin¬
dung gewonnen. Wenn wir an den Schicksalen eines Menschen theilnehmen
sollen, seine Verirrungen, seine Verlegenheiten mit behaglicher Theilnahme em¬
pfinden, so muß er uns bis zu einem gewissen Grade, soweit es seine Stellung
im Stück erlaubt, auch nahe gestellt werden. Der lustig spottende Franzose will
nur die Lächerlichkeit oder Verkehrtheit zeigen, während wir das Bedürfniß haben,
den ganzen Menschen vor uns zu sehen. Die Mischung von charakterisirenden
Farben in derselben Person hebt die Wirkung der Hauptfarbe nicht auf, ja sie
erst giebt ihr den vollen Reiz des Lebendigen, den meisten Personen Moliöres
fehlt ein wenig zu sehr diese Mischung zu ihrem dramatischen Leben, eine Farben¬
mischung, welche im Alterthum, soweit uns Kunde davon geblieben, nur einer,
Sophokles, verstanden hat.

Wenn man zugiebt, daß es eine andre Methode der Charakterdarstellung
für das Lustspiel giebt, wo die Handlung nicht vorzugsweise von der Verkehrt¬
heit der Personen abhängig ist, und wo die Charakterschilderung mit allem
Aufwand und Kunst nur diese Verkehrtheit hervorzuheben hat, so ist doch nicht leicht,
Stücke und Dichtertalente anzuführen, in denen sich seitMoliöre ein sicherer Fort¬
schritt des Lustspiels vollzogen hat. Lesstng hat in seiner Minna von Barn¬
helm einen Anlauf genommen, aber es blieb beim Anlauf. Und wie auch er
durch Meliere bestimmt wurde, ist deutlich zu erkennen. Sein Tellheim ent¬
hält mehr als eine Erinnerung an den Misanthrop, auch bei ihm wird am
Schluß die Verwickelung durch den veus ex wackina, den einfallenden Brief
seines großen Königs gelöst, wie im Tartüffe durch die Ordonnanz des großen
Monarchen. Aber allerdings ist in dem deutschen Versuche schon eine andre
Art von Charakterzeichnung als bei dem Franzosen. Der Dichter empfindet
mit größerer Innigkeit die Tiefen des Gemüthslebens in seinen Menschen, der
hervorstechende Charakterzug beherrscht sie nicht mehr in dem Grade, daß nur
auf ihn die Blicke geheftet bleiben, Tellheim ist ein wackrer ritterlicher Mann,
unsres warmen Antheils werth, der nicht nur aus übergroßem Ehrgefühl oder
verletztem Stolz sich von der Welt zurückzieht, sondern der uns auch andre
Seiten seines Wesens zeigt und den Glauben einflößt, daß er wohl seinen
Frieden mit der Welt machen werde, wenn aus seiner Seele entfernt ist, waS
ihm als Stachel von einer erlittenen Kränkung zurückgeblieben ist. Denn
das Stück stellt sich die Aufgabe, in heiterm Spiel die Befreiung des Hel¬
den von dem darzustellen, was seinem edlen Wesen eine leise Beimischung
des Lächerlichen giebt. Gelang es dem Dichter auch nicht vollständig, diese
Idee seines Stückes zur Darstellung zu bringen, wir werden doch warme Theil-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/145>, abgerufen am 15.01.2025.