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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Typen seiner Nebenfiguren, stehende Fächer: die Vertrauten und Kammer¬
mädchen, das Forttreiben der Handlung durch kleine abgenutzte Mittel, dies und
Aehnliches hängt noch unserm Lustspiel an, wie er es aus der römischen Ko¬
mödie überkam.

Denn die Atmosphäre des französischen Familienlebens, wie es zu Moliöres
Zeit war, ist aus der Trivialität unserer Anekdvtenstücke immer noch erkennbar;
wie aus unserer Bühne die Freier ins Haus geführt werden, wie sie sich zwi¬
schen Vater und Mutter durchsetzen, Zustände, Charaktere, Situationen sind
noch häufig geistlose Nachbildungen seiner Erfindung, im Vergleich mit
unserer Zeit so conventionell, unwahr und abgeschmackt als möglich. Und es
ist ein unheimliches Gefühl, den rechtschaffenen Rathgeber Ariste. das Kammer¬
mädchen Dorine, den widcrhciarigen Vormund Scagnarelle, die verliebte alte Tante
Belise aus dem dürftigen Dialog unserer Jahre in altfranzösischer Tracht Her¬
ausgucken zu sehen. Freilich kann man noch ältere Gesichter hinter den mo¬
dernen Personen erkennen, auch Sofia und Davus,- welche lange vor unserer
Zeitrechnung Lachen erregten, sind durch modernen Frack und Tressenhut zuweilen
weniger nationalisirt, als schon bei Moliöre. Nirgend wird die Abhängigkeit
vom Alterthum und die Seltenheit starker originaler Empfindung lebhafter
empfunden als bei der Gattung der Poesie, welche doch ganz ausschließlich
auf lustige Darstellung ihrer Gegenwart angewiesen ist.

Moliere war in dem höfischen Treiben seiner Zeit ein ernster Mann von
starken ethischen Bedürfnissen. Die Lebensgrundsätze, welche er ausspricht, sind
reiner und strenger als bei der Mehrzahl seiner Zeitgenossen', er hat die Weisheit
eines Mannes von Welt und die Liebe eines Dichterherzens zur Menschheit.
Er steht als Dichter nicht nur in Bildung, auch in sittlichem Inhalt hoch über
dem wüsten Treiben seiner Zeit, ja er ist in jener Periode der Frivolität, in
welcher die Rohheit des Mittelalters zuerst durch äußere Form gebändigt
wurde, ein eifriger Moralprediger, und er liebt es, die Grundsätze eines guten
und charaktervoller Menschen den Nennungen seiner Zeit gegenüber mit einer
Energie und Ausführlichkeit auszusprechen, welche uns zuweilen ein beistim¬
mendes Lächeln abnöthigen. Aber die edelsten Sittenlehren aus vergangener
Zeit erscheinen unsrer Erkenntniß nicht nach jeder Richtung vollendet. Und jede
Zeit und jedes Volk hat außer den allgemeinen Schäden und Schwächen auch
ihre nationalen. Der Hof und das Paris des vierzehnten Ludwig beschränkten
auch für unsere Empfindung die honetten Leute jener Jahre. Die Zuverlässig¬
keit in Wort und That zwar geringer, die Nothlüge machte auch zarten Ge¬
wissen wenig Bedenken. Die Frivolität in Auffassung socialer Pflichten war un-
vergleichlich größer als jetzt, die Ehe war ein Geschäft, welches in der Regel
aus äußern Rücksichten geschlossen wurde, einen dienenden Verehrer zu haben
war ein Erfordermß des geselligen Anstandes für modische Mädchen wie für


Typen seiner Nebenfiguren, stehende Fächer: die Vertrauten und Kammer¬
mädchen, das Forttreiben der Handlung durch kleine abgenutzte Mittel, dies und
Aehnliches hängt noch unserm Lustspiel an, wie er es aus der römischen Ko¬
mödie überkam.

Denn die Atmosphäre des französischen Familienlebens, wie es zu Moliöres
Zeit war, ist aus der Trivialität unserer Anekdvtenstücke immer noch erkennbar;
wie aus unserer Bühne die Freier ins Haus geführt werden, wie sie sich zwi¬
schen Vater und Mutter durchsetzen, Zustände, Charaktere, Situationen sind
noch häufig geistlose Nachbildungen seiner Erfindung, im Vergleich mit
unserer Zeit so conventionell, unwahr und abgeschmackt als möglich. Und es
ist ein unheimliches Gefühl, den rechtschaffenen Rathgeber Ariste. das Kammer¬
mädchen Dorine, den widcrhciarigen Vormund Scagnarelle, die verliebte alte Tante
Belise aus dem dürftigen Dialog unserer Jahre in altfranzösischer Tracht Her¬
ausgucken zu sehen. Freilich kann man noch ältere Gesichter hinter den mo¬
dernen Personen erkennen, auch Sofia und Davus,- welche lange vor unserer
Zeitrechnung Lachen erregten, sind durch modernen Frack und Tressenhut zuweilen
weniger nationalisirt, als schon bei Moliöre. Nirgend wird die Abhängigkeit
vom Alterthum und die Seltenheit starker originaler Empfindung lebhafter
empfunden als bei der Gattung der Poesie, welche doch ganz ausschließlich
auf lustige Darstellung ihrer Gegenwart angewiesen ist.

Moliere war in dem höfischen Treiben seiner Zeit ein ernster Mann von
starken ethischen Bedürfnissen. Die Lebensgrundsätze, welche er ausspricht, sind
reiner und strenger als bei der Mehrzahl seiner Zeitgenossen', er hat die Weisheit
eines Mannes von Welt und die Liebe eines Dichterherzens zur Menschheit.
Er steht als Dichter nicht nur in Bildung, auch in sittlichem Inhalt hoch über
dem wüsten Treiben seiner Zeit, ja er ist in jener Periode der Frivolität, in
welcher die Rohheit des Mittelalters zuerst durch äußere Form gebändigt
wurde, ein eifriger Moralprediger, und er liebt es, die Grundsätze eines guten
und charaktervoller Menschen den Nennungen seiner Zeit gegenüber mit einer
Energie und Ausführlichkeit auszusprechen, welche uns zuweilen ein beistim¬
mendes Lächeln abnöthigen. Aber die edelsten Sittenlehren aus vergangener
Zeit erscheinen unsrer Erkenntniß nicht nach jeder Richtung vollendet. Und jede
Zeit und jedes Volk hat außer den allgemeinen Schäden und Schwächen auch
ihre nationalen. Der Hof und das Paris des vierzehnten Ludwig beschränkten
auch für unsere Empfindung die honetten Leute jener Jahre. Die Zuverlässig¬
keit in Wort und That zwar geringer, die Nothlüge machte auch zarten Ge¬
wissen wenig Bedenken. Die Frivolität in Auffassung socialer Pflichten war un-
vergleichlich größer als jetzt, die Ehe war ein Geschäft, welches in der Regel
aus äußern Rücksichten geschlossen wurde, einen dienenden Verehrer zu haben
war ein Erfordermß des geselligen Anstandes für modische Mädchen wie für


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[0137] Typen seiner Nebenfiguren, stehende Fächer: die Vertrauten und Kammer¬ mädchen, das Forttreiben der Handlung durch kleine abgenutzte Mittel, dies und Aehnliches hängt noch unserm Lustspiel an, wie er es aus der römischen Ko¬ mödie überkam. Denn die Atmosphäre des französischen Familienlebens, wie es zu Moliöres Zeit war, ist aus der Trivialität unserer Anekdvtenstücke immer noch erkennbar; wie aus unserer Bühne die Freier ins Haus geführt werden, wie sie sich zwi¬ schen Vater und Mutter durchsetzen, Zustände, Charaktere, Situationen sind noch häufig geistlose Nachbildungen seiner Erfindung, im Vergleich mit unserer Zeit so conventionell, unwahr und abgeschmackt als möglich. Und es ist ein unheimliches Gefühl, den rechtschaffenen Rathgeber Ariste. das Kammer¬ mädchen Dorine, den widcrhciarigen Vormund Scagnarelle, die verliebte alte Tante Belise aus dem dürftigen Dialog unserer Jahre in altfranzösischer Tracht Her¬ ausgucken zu sehen. Freilich kann man noch ältere Gesichter hinter den mo¬ dernen Personen erkennen, auch Sofia und Davus,- welche lange vor unserer Zeitrechnung Lachen erregten, sind durch modernen Frack und Tressenhut zuweilen weniger nationalisirt, als schon bei Moliöre. Nirgend wird die Abhängigkeit vom Alterthum und die Seltenheit starker originaler Empfindung lebhafter empfunden als bei der Gattung der Poesie, welche doch ganz ausschließlich auf lustige Darstellung ihrer Gegenwart angewiesen ist. Moliere war in dem höfischen Treiben seiner Zeit ein ernster Mann von starken ethischen Bedürfnissen. Die Lebensgrundsätze, welche er ausspricht, sind reiner und strenger als bei der Mehrzahl seiner Zeitgenossen', er hat die Weisheit eines Mannes von Welt und die Liebe eines Dichterherzens zur Menschheit. Er steht als Dichter nicht nur in Bildung, auch in sittlichem Inhalt hoch über dem wüsten Treiben seiner Zeit, ja er ist in jener Periode der Frivolität, in welcher die Rohheit des Mittelalters zuerst durch äußere Form gebändigt wurde, ein eifriger Moralprediger, und er liebt es, die Grundsätze eines guten und charaktervoller Menschen den Nennungen seiner Zeit gegenüber mit einer Energie und Ausführlichkeit auszusprechen, welche uns zuweilen ein beistim¬ mendes Lächeln abnöthigen. Aber die edelsten Sittenlehren aus vergangener Zeit erscheinen unsrer Erkenntniß nicht nach jeder Richtung vollendet. Und jede Zeit und jedes Volk hat außer den allgemeinen Schäden und Schwächen auch ihre nationalen. Der Hof und das Paris des vierzehnten Ludwig beschränkten auch für unsere Empfindung die honetten Leute jener Jahre. Die Zuverlässig¬ keit in Wort und That zwar geringer, die Nothlüge machte auch zarten Ge¬ wissen wenig Bedenken. Die Frivolität in Auffassung socialer Pflichten war un- vergleichlich größer als jetzt, die Ehe war ein Geschäft, welches in der Regel aus äußern Rücksichten geschlossen wurde, einen dienenden Verehrer zu haben war ein Erfordermß des geselligen Anstandes für modische Mädchen wie für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/137>, abgerufen am 15.01.2025.