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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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18S3 das Rechtsmittel, indem er sich ausdrücklich auf einen Theil der obigen
Auslegungssätze unsers Verfassungsrechtes stützte. Gegen dieses Erkenntniß
legte der Generalprocurator desselben Appellationsgerichtes den Cassationsrecurs
wegen Verletzung des Art. 84 der Verfassungsurkunde ein und begründete
diesen mit den wichtigsten der oben angeführten gegnerischen Ausführungen,
so wie mit Hinweis auf die Gefahr eines Privilegiums für die Nedeverbrechen
der Kammermitglieder. Korne einmal ein Abgeordneter die Anführung ver¬
letzender Thatsachen nicht umgehen, so gestatte ihm §. 157 des Strafgesetzbuches,
den Beweis der Wahrheit anzutreten und so sich gegen die Anklage wegen
Verleumdung zu schützen. (Hierüber beziehen wir uns auf die obigen allgemein
theoretischen Grundsätze betreffs der unbeschränkten Redefreiheit der Kammern.)
Der Generalstaatsanwalt beim Obertribunal widerholtc im Wescnlichcn jene
Gründe und schloß damit, bei der Unabhängigkeit preußischer Gerichte werde
die parlamentarische Redefreiheit durch die verlangte gerichtliche Verfolgung der
Kammermitglieder nicht ernstlich gefährdet; aber die Gerechtigkeit, d'le Gleichheit
vor dem Gesetz, die nothwendige Aufrechthaltung der Autorität gestatten es
nicht, daß Mitglieder der Kammer in ihren Reden straflos die Gesetze verletzen,
daß sie namentlich durch Behauptung unwahrer Thatsachen die ersten Rath-
geber der Krone dem Hasse und der Verachtung aussetzen.

Aber das Erkenntniß des Obertribunals v. 12. Decbr. 18S3 wies trotz
aller dieser angedrohten Schrecknisse den Cassationsrecurs zurück in Erwägung
daß Art. 84 der Verfassungsurkunde zwar nicht alle Aeußerungen eines Abge¬
ordneten in der Kammer der strafgerichtlichen Verfolgung entziehe, daß aber
wegen der Abstimmungen jede Verfolgung ausgeschlossen ist und wegen der ge¬
äußerten Meinungen nur der betreffenden Kammer das Recht zugestanden werde,
innerhalb der Kammer auf Grund der Geschäftsordnung Rechenschaft zu fordern;
daß das Gesetz hierdurch die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Abgeord¬
neten bei ihren amtlichen Reden sichern wollte, und daß also der Ausdruck
"Meinungen" alle Aeußerungen eines Abgeordneten umfaßt, welche von dem¬
selben in dieser seiner Eigenschaft bei Ausübung seiner Functionen von der
Kammer gemacht werden, insoweit solche nicht zu den Abstimmungen ge¬
hören (Goldammer. Archiv II. S. 82).

Der höchste preußische Gerichtshof sieht also ebenfalls den Art. 84 als
Schutzwehr der Kammermitglieder gegen jede gerichtliche Verfolgung an, so weit
es sich -- abgesehen von den Abstimmungen -- um die Reden und Aeußerungen
handelt, welche ein Kammermitglied als solches hält, resp. thut. Das bedeutet
der Satz des obigen Erkenntnisses: "alle Aeußerungen, welche von einem Abge¬
ordneten in dieser seiner Eigenschaft bei Ausübung seiner Functionen in der
Kammer gemacht-werden." Denn die Functionen eines Kammcrmitgliedes in
der Kammer sind, zu stimmen und sich über die den Kammcrberathungen vor-


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18S3 das Rechtsmittel, indem er sich ausdrücklich auf einen Theil der obigen
Auslegungssätze unsers Verfassungsrechtes stützte. Gegen dieses Erkenntniß
legte der Generalprocurator desselben Appellationsgerichtes den Cassationsrecurs
wegen Verletzung des Art. 84 der Verfassungsurkunde ein und begründete
diesen mit den wichtigsten der oben angeführten gegnerischen Ausführungen,
so wie mit Hinweis auf die Gefahr eines Privilegiums für die Nedeverbrechen
der Kammermitglieder. Korne einmal ein Abgeordneter die Anführung ver¬
letzender Thatsachen nicht umgehen, so gestatte ihm §. 157 des Strafgesetzbuches,
den Beweis der Wahrheit anzutreten und so sich gegen die Anklage wegen
Verleumdung zu schützen. (Hierüber beziehen wir uns auf die obigen allgemein
theoretischen Grundsätze betreffs der unbeschränkten Redefreiheit der Kammern.)
Der Generalstaatsanwalt beim Obertribunal widerholtc im Wescnlichcn jene
Gründe und schloß damit, bei der Unabhängigkeit preußischer Gerichte werde
die parlamentarische Redefreiheit durch die verlangte gerichtliche Verfolgung der
Kammermitglieder nicht ernstlich gefährdet; aber die Gerechtigkeit, d'le Gleichheit
vor dem Gesetz, die nothwendige Aufrechthaltung der Autorität gestatten es
nicht, daß Mitglieder der Kammer in ihren Reden straflos die Gesetze verletzen,
daß sie namentlich durch Behauptung unwahrer Thatsachen die ersten Rath-
geber der Krone dem Hasse und der Verachtung aussetzen.

Aber das Erkenntniß des Obertribunals v. 12. Decbr. 18S3 wies trotz
aller dieser angedrohten Schrecknisse den Cassationsrecurs zurück in Erwägung
daß Art. 84 der Verfassungsurkunde zwar nicht alle Aeußerungen eines Abge¬
ordneten in der Kammer der strafgerichtlichen Verfolgung entziehe, daß aber
wegen der Abstimmungen jede Verfolgung ausgeschlossen ist und wegen der ge¬
äußerten Meinungen nur der betreffenden Kammer das Recht zugestanden werde,
innerhalb der Kammer auf Grund der Geschäftsordnung Rechenschaft zu fordern;
daß das Gesetz hierdurch die Unbefangenheit und Unabhängigkeit der Abgeord¬
neten bei ihren amtlichen Reden sichern wollte, und daß also der Ausdruck
„Meinungen" alle Aeußerungen eines Abgeordneten umfaßt, welche von dem¬
selben in dieser seiner Eigenschaft bei Ausübung seiner Functionen von der
Kammer gemacht werden, insoweit solche nicht zu den Abstimmungen ge¬
hören (Goldammer. Archiv II. S. 82).

Der höchste preußische Gerichtshof sieht also ebenfalls den Art. 84 als
Schutzwehr der Kammermitglieder gegen jede gerichtliche Verfolgung an, so weit
es sich — abgesehen von den Abstimmungen — um die Reden und Aeußerungen
handelt, welche ein Kammermitglied als solches hält, resp. thut. Das bedeutet
der Satz des obigen Erkenntnisses: „alle Aeußerungen, welche von einem Abge¬
ordneten in dieser seiner Eigenschaft bei Ausübung seiner Functionen in der
Kammer gemacht-werden." Denn die Functionen eines Kammcrmitgliedes in
der Kammer sind, zu stimmen und sich über die den Kammcrberathungen vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/117>, abgerufen am 15.01.2025.