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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Volksvertretern die Gewalt der Gesetzgebung und der Controlle der Regierungs¬
handlungen zuerkennen, oder ihnen, wie noch neuerdings der große John
Stuart Mill (Repräsentativverfassung S, S6 ff. 68 ff.) will, nur letztere Con¬
trolle zuweisen, immer müssen sie die gesetzliche Möglichkeit haben, unbeeinflußt
durch eine entgegenstehende Besorgniß vor Anklage die wahre Meinung, den
wahren Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Gerade die Stellung
der Volksvertreter zwischen Negierung und Volk, besonders aber als Beauf'
sichtiger der Regierung im Namen und zu Gunsten des Volkes bringt es mit
sich und zwingt, daß sie vielfach mit ernster, strenger Rüge gegen Maßregeln
der Regierung, gegen das Gebahren, Verhalten einzelner Glieder des Volkes
einschreiten. Ihr Tadel kann gar leicht so weit gehen, daß es erscheint, als
wollten sie z. B. die Staatsverfassung gewaltsam ändern oder öffentlich durch
ihre Rede zur Ausführung einer solchen Aenderung auffordern, und doch deckt
eben ihre Stellung als Volksvertreter sie schon gegen den Verdacht des Hoch¬
verrathes oder der Anreizung dazu. Auch können sie oft gar nicht alle ihre
Behauptungen, ihre Verdachtsmomente mit klaren Beweisen belegen und doch
müssen sie, eben um durch die Debatte Klarheit, Gewißheit zu schaffen, ihren
Verdacht, ihren Tadel aussprechen. Folgendes aber kommt noch hinzu. Hier
faßt, wie gerade die eben geschlossene Sitzungsperiode der Hauser in Preußen
lehrt, der gerügte Theil die Worte der Rüge gar zu leicht als persönliche, nicht
sachliche aus, oder er sieht in der Rüge vom Parteistandpunkte aus Anzeichen
einer schweren strafbaren Handlung, z. B. Hochverraths. Und so weist die
gerügte Regierung, der getadelte Minister, als Partei, nun ihre Organe, die
Staatsanwälte und Oberstaatsanwälte an. Anklage gegen den verhaßten Tadler
wegen seiner Rüge zu erheben, und der höchste Chef der Gerichtsbeamten im
Staate, an dessen Willen, dessen Verfügungen vielfach das Glück, ja die Existenz
der Richter hängt, als Beleidigter, Verleumdeter, oder als Partei- und Regie-
rungsgenvsse der Beleidigten. Verleumdeten, oder auch nur als höchster Vor¬
gesetzter und Mitglied der angeblich in ihrer Existenz bedrohten Regierung
fordert von den Richtern das Urtheil über seinen offnen, allbekannten politischen
Gegner, den Gegner seiner Genossen, seiner Negierung. (Der Umstand da¬
gegen, daß die Richter hier über Mitglieder des einen gesetzgebenden Factors
urtheilen müssen, hat offenbar nichts Widersprechendes in sich.) -- Andrerseits
regt gerade die Stellung der Volksvertreter alle Geistes- und Seelenkräfte der
einzelnen Mitglieder auf, ihre Pflicht fordert, daß sie mit ganzer Energie,
mit größtem Nachdruck die Rechte, das Wohl des Volkes wahrnehmen. Wenn
nun bereits die Repräsentativverfassung durch scharf gesonderte Parteibildungen
im Volke sich lebendig erwies und etwa ein brennender Conflict zwischen
Regierung und Volk die politischen Parteien besonders schroff einander gegen¬
überstellte, dann ist es unausbleiblich, daß die Volksvertreter ebenso, wie die-


Volksvertretern die Gewalt der Gesetzgebung und der Controlle der Regierungs¬
handlungen zuerkennen, oder ihnen, wie noch neuerdings der große John
Stuart Mill (Repräsentativverfassung S, S6 ff. 68 ff.) will, nur letztere Con¬
trolle zuweisen, immer müssen sie die gesetzliche Möglichkeit haben, unbeeinflußt
durch eine entgegenstehende Besorgniß vor Anklage die wahre Meinung, den
wahren Willen des Volkes zum Ausdruck zu bringen. Gerade die Stellung
der Volksvertreter zwischen Negierung und Volk, besonders aber als Beauf'
sichtiger der Regierung im Namen und zu Gunsten des Volkes bringt es mit
sich und zwingt, daß sie vielfach mit ernster, strenger Rüge gegen Maßregeln
der Regierung, gegen das Gebahren, Verhalten einzelner Glieder des Volkes
einschreiten. Ihr Tadel kann gar leicht so weit gehen, daß es erscheint, als
wollten sie z. B. die Staatsverfassung gewaltsam ändern oder öffentlich durch
ihre Rede zur Ausführung einer solchen Aenderung auffordern, und doch deckt
eben ihre Stellung als Volksvertreter sie schon gegen den Verdacht des Hoch¬
verrathes oder der Anreizung dazu. Auch können sie oft gar nicht alle ihre
Behauptungen, ihre Verdachtsmomente mit klaren Beweisen belegen und doch
müssen sie, eben um durch die Debatte Klarheit, Gewißheit zu schaffen, ihren
Verdacht, ihren Tadel aussprechen. Folgendes aber kommt noch hinzu. Hier
faßt, wie gerade die eben geschlossene Sitzungsperiode der Hauser in Preußen
lehrt, der gerügte Theil die Worte der Rüge gar zu leicht als persönliche, nicht
sachliche aus, oder er sieht in der Rüge vom Parteistandpunkte aus Anzeichen
einer schweren strafbaren Handlung, z. B. Hochverraths. Und so weist die
gerügte Regierung, der getadelte Minister, als Partei, nun ihre Organe, die
Staatsanwälte und Oberstaatsanwälte an. Anklage gegen den verhaßten Tadler
wegen seiner Rüge zu erheben, und der höchste Chef der Gerichtsbeamten im
Staate, an dessen Willen, dessen Verfügungen vielfach das Glück, ja die Existenz
der Richter hängt, als Beleidigter, Verleumdeter, oder als Partei- und Regie-
rungsgenvsse der Beleidigten. Verleumdeten, oder auch nur als höchster Vor¬
gesetzter und Mitglied der angeblich in ihrer Existenz bedrohten Regierung
fordert von den Richtern das Urtheil über seinen offnen, allbekannten politischen
Gegner, den Gegner seiner Genossen, seiner Negierung. (Der Umstand da¬
gegen, daß die Richter hier über Mitglieder des einen gesetzgebenden Factors
urtheilen müssen, hat offenbar nichts Widersprechendes in sich.) — Andrerseits
regt gerade die Stellung der Volksvertreter alle Geistes- und Seelenkräfte der
einzelnen Mitglieder auf, ihre Pflicht fordert, daß sie mit ganzer Energie,
mit größtem Nachdruck die Rechte, das Wohl des Volkes wahrnehmen. Wenn
nun bereits die Repräsentativverfassung durch scharf gesonderte Parteibildungen
im Volke sich lebendig erwies und etwa ein brennender Conflict zwischen
Regierung und Volk die politischen Parteien besonders schroff einander gegen¬
überstellte, dann ist es unausbleiblich, daß die Volksvertreter ebenso, wie die-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/106>, abgerufen am 15.01.2025.