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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Als Historiker ist Herr Mommsen ein Repräsentant der neuen Zeit,
welche von ihren Geschichtschreibern warmen Antheil an den Interessen der
Gegenwart, ein Herz, fest in Lieb und Haß und eine Bildung fordert,
welche über den Kreis des gelehrten Faches hinausreicht. Unter den
Philologen ist er ein ausgezeichneter Vertreter der neuen Richtung, welche
außer den Autoren des Alterthums reichlich und sorgfältig andere Quellen
auszubeuten versteht. Er hat in Italien jahrelang Inschriften gesammelt, die
schöne Sammlung der neapolitanischen Inschriften, die Herausgabe der schwei¬
zerischen waren Vorgänger des großen Sammelwerkes der römischen Inscriptio-
nen, welches durch die Akademie der Wissenschaften in Berlin veranlaßt wurde,
und dessen Mittelpunkt er geworden ist. Diese weitläufige Arbeit, die damit ver¬
bundenen Reisen in die Länder Europas, welche dieser Sammlung reichere Aus¬
beute verheißen, haben ihm die Schöpferkraft nicht beeinträchtigt, welche fast
auf jedem Gebiet der römischen Alterthümer eine umgestaltende Thätigkeit er¬
weist. Seine Werke über das römische Münzwesen, über römische Chronologie,
über die ältere Staatsverfassung der Republik haben sowohl kritisch als con-
struirend diese Disciplinen umgestaltet, auch die Gegner sind gezwungen, sich
unablässig mit seinen Resultaten zu beschäftigen.

Sein Werk ist Gemeingut der Gebildeten geworden. Wer hat sich nicht an
der geistvollen Darstellung und schönen Weise erfreut, in welcher er Wesen
und Eigenheit der alten Bauern Latinas darstellt, aus ihren Zuständen die
Anfänge Roms construirt und das originale Leben dieser Hauptstadt der
italienischen Bundesgenossen in Familienleben und Sitte, in Religion und
Recht, in Handel und Ackerbau, in Schrift, Maß und Gewicht, in Literatur
und Kunst, in der Staatsverfassung und in politischem Schicksal, vom Beginn
der historische" Zeit darlegt? Vielfach besprochen ist auch die kurze Energie,
mit welcher er die historischen Sagen der Königszeit weggeworfen hat; sogar
edi Namen der sieben römischen Könige wird man aus seinem Buche schwerlich
zusammen bringen. Wenn es gut war, einmal diese erfundene Geschichte
da gänzlich abzuschaffen, wo sie sich seit zwei Jahrtausenden ohne Recht ge¬
lagert hat, so wäre doch sehr dankenswerth, wenn Mommsen dieselbe in
einem spätern Abschnitte des Werkes kritisch behandeln wollte, sei es an der
Stelle, wo er die Methode der römischen Geschichtschreiber darlegt, oder
wo er von dem Aussterben der Patricierfamilien und dem Werthe ihrer Ge¬
schlechtstraditionen spricht. Denn auch diese Sagenbildung ist charakteristisch für
das römische Wesen. Einige der Sagen sind wahrscheinlich bewußte heraldische
oder politische Fälschung, andere sind offenbar alte Gentilsagen, wie die der
Valerier, Fabler, Horatier, noch andere sind überkommenes Erbe der Stadt,
Localtraditionen. darunter hier und da sicher eine historische Erinnerung, nur
daß diese für uns nicht von der erfundenen Zuthat zu lösen ist. Niemand ist


Als Historiker ist Herr Mommsen ein Repräsentant der neuen Zeit,
welche von ihren Geschichtschreibern warmen Antheil an den Interessen der
Gegenwart, ein Herz, fest in Lieb und Haß und eine Bildung fordert,
welche über den Kreis des gelehrten Faches hinausreicht. Unter den
Philologen ist er ein ausgezeichneter Vertreter der neuen Richtung, welche
außer den Autoren des Alterthums reichlich und sorgfältig andere Quellen
auszubeuten versteht. Er hat in Italien jahrelang Inschriften gesammelt, die
schöne Sammlung der neapolitanischen Inschriften, die Herausgabe der schwei¬
zerischen waren Vorgänger des großen Sammelwerkes der römischen Inscriptio-
nen, welches durch die Akademie der Wissenschaften in Berlin veranlaßt wurde,
und dessen Mittelpunkt er geworden ist. Diese weitläufige Arbeit, die damit ver¬
bundenen Reisen in die Länder Europas, welche dieser Sammlung reichere Aus¬
beute verheißen, haben ihm die Schöpferkraft nicht beeinträchtigt, welche fast
auf jedem Gebiet der römischen Alterthümer eine umgestaltende Thätigkeit er¬
weist. Seine Werke über das römische Münzwesen, über römische Chronologie,
über die ältere Staatsverfassung der Republik haben sowohl kritisch als con-
struirend diese Disciplinen umgestaltet, auch die Gegner sind gezwungen, sich
unablässig mit seinen Resultaten zu beschäftigen.

Sein Werk ist Gemeingut der Gebildeten geworden. Wer hat sich nicht an
der geistvollen Darstellung und schönen Weise erfreut, in welcher er Wesen
und Eigenheit der alten Bauern Latinas darstellt, aus ihren Zuständen die
Anfänge Roms construirt und das originale Leben dieser Hauptstadt der
italienischen Bundesgenossen in Familienleben und Sitte, in Religion und
Recht, in Handel und Ackerbau, in Schrift, Maß und Gewicht, in Literatur
und Kunst, in der Staatsverfassung und in politischem Schicksal, vom Beginn
der historische» Zeit darlegt? Vielfach besprochen ist auch die kurze Energie,
mit welcher er die historischen Sagen der Königszeit weggeworfen hat; sogar
edi Namen der sieben römischen Könige wird man aus seinem Buche schwerlich
zusammen bringen. Wenn es gut war, einmal diese erfundene Geschichte
da gänzlich abzuschaffen, wo sie sich seit zwei Jahrtausenden ohne Recht ge¬
lagert hat, so wäre doch sehr dankenswerth, wenn Mommsen dieselbe in
einem spätern Abschnitte des Werkes kritisch behandeln wollte, sei es an der
Stelle, wo er die Methode der römischen Geschichtschreiber darlegt, oder
wo er von dem Aussterben der Patricierfamilien und dem Werthe ihrer Ge¬
schlechtstraditionen spricht. Denn auch diese Sagenbildung ist charakteristisch für
das römische Wesen. Einige der Sagen sind wahrscheinlich bewußte heraldische
oder politische Fälschung, andere sind offenbar alte Gentilsagen, wie die der
Valerier, Fabler, Horatier, noch andere sind überkommenes Erbe der Stadt,
Localtraditionen. darunter hier und da sicher eine historische Erinnerung, nur
daß diese für uns nicht von der erfundenen Zuthat zu lösen ist. Niemand ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/68>, abgerufen am 12.12.2024.