Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die fast glauben läßt, die Einleitung sei theilweise schon vor dem Entwürfe
selbst abgefaßt. Denn sie athmet, wie es scheint, den Geist der Jahre 18S8
bis 1860. Nach Hinweis auf die Widersprüche der Criminalordnung und der
wichtigsten Strafproceßgesetze vom 3. Januar 1849 und 3, Mai 1852 heißt
es: "Es ist vielleicht nicht zu bedauern, daß die gesetzliche Ausbildung des Straf¬
verfahrens in so unvollkommenen Formen erfolgte. Die gerichtliche Praxis
war nun genöthigt, ihrerseits die Lösung der Aufgabe zu überneh¬
men, welche der Gesetzgeber unerfüllt gelassen hatte. Ihr fiel es jetzt zu, die
disparaten Elemente des ihren Händen übergebenen Strafproceßrechtes mit
einander in Einklang zu bringen. Diese Art und Weise der Fortentwicklung
unsres Strafproceßrechts hat den unläugbaren Vorzug gehabt, daß sie nicht aus
blos theoretischen Constructionen hervorgegangen, sondern sich allmälig, nach
Maßgabe der hervortretenden praktischen Bedürfnisse und Ersahrungen, und an
der Hand der hierdurch in ihren Gesichtspunkten erweiterten wissenschaftlichen
Erkenntniß vollzogen hat. Jetzt nach anderthalb Jahrzehnten sei es aber an
der Zeit, statt der wuchernd in die Lücken der Gesetze hineingeschobenen prak¬
tischen Entscheidungen ein harmonisch ausgeführtes Gesetz zu stellen. Es gelte
ferner, ein für die östlichen und westlichen Provinzen Preußens gleiches Straf¬
proceßrecht zu schaffen. Aus diesen Erwägungen sei der vorliegende Entwurf
entstanden, welcher kein neues Recht geben durfte noch wollte, sondern "sich
zur Richtschnur nimmt, sich, auch in der Ausführung des Einzelnen an das
Bestehende so viel als möglich anzulehnen, weil nur auf diese Weise
die mit diesem Rechtszustande verwebten Ergebnisse der Erfahrung und der
Rechtsprechung für die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden können."

Daß die Vermuthung, die Einleitung sei verfrüht oder gar unrichtig, dem
Inhalte des Entwurfes selbst gegenüber begründet ist, wird sich aus der näheren
Betrachtung des letzteren ergeben. Diese soll sich vornehmlich auf einen Kern¬
punk! jeder und so auch der hier entworfenen neuen Strafproceßordnung er¬
strecken, auf das Schwurgericht und zwar zunächst auf dessen Kompetenz
(Zuständigkeit). Die historische Einleitung aber des Entwurfs und seine ein¬
gehende und entscheidende Beurtheilung erzwingen eine kurze historische Erörte¬
rung, welche allen folgenden Punkten der Besprechung dient.

Das Untersuchungsprincip im Strafprocesse beruht darauf, daß der
Staat schon bei der ersten Anzeige eines verübten Verbrechens, durch einen Be¬
amten, der zugleich der Untersuchungsrichter ist, jede Spur des Verbrechens und
alle Materialien zur Entdeckung des Thäters verfolgen, alle möglichen Beweis¬
quellen benutzen, alle Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln läßt, damit
aus Grund derselben der Richter ohne eine bestimmte Anklage urtheilen könne,
welches Verbrechens jemand und in welchem Grade schuldig sei. Bei dem An-
Nageprincip dagegen werden durch einen zur Verfolgung und Durchführung


die fast glauben läßt, die Einleitung sei theilweise schon vor dem Entwürfe
selbst abgefaßt. Denn sie athmet, wie es scheint, den Geist der Jahre 18S8
bis 1860. Nach Hinweis auf die Widersprüche der Criminalordnung und der
wichtigsten Strafproceßgesetze vom 3. Januar 1849 und 3, Mai 1852 heißt
es: „Es ist vielleicht nicht zu bedauern, daß die gesetzliche Ausbildung des Straf¬
verfahrens in so unvollkommenen Formen erfolgte. Die gerichtliche Praxis
war nun genöthigt, ihrerseits die Lösung der Aufgabe zu überneh¬
men, welche der Gesetzgeber unerfüllt gelassen hatte. Ihr fiel es jetzt zu, die
disparaten Elemente des ihren Händen übergebenen Strafproceßrechtes mit
einander in Einklang zu bringen. Diese Art und Weise der Fortentwicklung
unsres Strafproceßrechts hat den unläugbaren Vorzug gehabt, daß sie nicht aus
blos theoretischen Constructionen hervorgegangen, sondern sich allmälig, nach
Maßgabe der hervortretenden praktischen Bedürfnisse und Ersahrungen, und an
der Hand der hierdurch in ihren Gesichtspunkten erweiterten wissenschaftlichen
Erkenntniß vollzogen hat. Jetzt nach anderthalb Jahrzehnten sei es aber an
der Zeit, statt der wuchernd in die Lücken der Gesetze hineingeschobenen prak¬
tischen Entscheidungen ein harmonisch ausgeführtes Gesetz zu stellen. Es gelte
ferner, ein für die östlichen und westlichen Provinzen Preußens gleiches Straf¬
proceßrecht zu schaffen. Aus diesen Erwägungen sei der vorliegende Entwurf
entstanden, welcher kein neues Recht geben durfte noch wollte, sondern „sich
zur Richtschnur nimmt, sich, auch in der Ausführung des Einzelnen an das
Bestehende so viel als möglich anzulehnen, weil nur auf diese Weise
die mit diesem Rechtszustande verwebten Ergebnisse der Erfahrung und der
Rechtsprechung für die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden können."

Daß die Vermuthung, die Einleitung sei verfrüht oder gar unrichtig, dem
Inhalte des Entwurfes selbst gegenüber begründet ist, wird sich aus der näheren
Betrachtung des letzteren ergeben. Diese soll sich vornehmlich auf einen Kern¬
punk! jeder und so auch der hier entworfenen neuen Strafproceßordnung er¬
strecken, auf das Schwurgericht und zwar zunächst auf dessen Kompetenz
(Zuständigkeit). Die historische Einleitung aber des Entwurfs und seine ein¬
gehende und entscheidende Beurtheilung erzwingen eine kurze historische Erörte¬
rung, welche allen folgenden Punkten der Besprechung dient.

Das Untersuchungsprincip im Strafprocesse beruht darauf, daß der
Staat schon bei der ersten Anzeige eines verübten Verbrechens, durch einen Be¬
amten, der zugleich der Untersuchungsrichter ist, jede Spur des Verbrechens und
alle Materialien zur Entdeckung des Thäters verfolgen, alle möglichen Beweis¬
quellen benutzen, alle Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln läßt, damit
aus Grund derselben der Richter ohne eine bestimmte Anklage urtheilen könne,
welches Verbrechens jemand und in welchem Grade schuldig sei. Bei dem An-
Nageprincip dagegen werden durch einen zur Verfolgung und Durchführung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0022" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/282819"/>
          <p xml:id="ID_55" prev="#ID_54"> die fast glauben läßt, die Einleitung sei theilweise schon vor dem Entwürfe<lb/>
selbst abgefaßt. Denn sie athmet, wie es scheint, den Geist der Jahre 18S8<lb/>
bis 1860. Nach Hinweis auf die Widersprüche der Criminalordnung und der<lb/>
wichtigsten Strafproceßgesetze vom 3. Januar 1849 und 3, Mai 1852 heißt<lb/>
es: &#x201E;Es ist vielleicht nicht zu bedauern, daß die gesetzliche Ausbildung des Straf¬<lb/>
verfahrens in so unvollkommenen Formen erfolgte. Die gerichtliche Praxis<lb/>
war nun genöthigt, ihrerseits die Lösung der Aufgabe zu überneh¬<lb/>
men, welche der Gesetzgeber unerfüllt gelassen hatte. Ihr fiel es jetzt zu, die<lb/>
disparaten Elemente des ihren Händen übergebenen Strafproceßrechtes mit<lb/>
einander in Einklang zu bringen. Diese Art und Weise der Fortentwicklung<lb/>
unsres Strafproceßrechts hat den unläugbaren Vorzug gehabt, daß sie nicht aus<lb/>
blos theoretischen Constructionen hervorgegangen, sondern sich allmälig, nach<lb/>
Maßgabe der hervortretenden praktischen Bedürfnisse und Ersahrungen, und an<lb/>
der Hand der hierdurch in ihren Gesichtspunkten erweiterten wissenschaftlichen<lb/>
Erkenntniß vollzogen hat. Jetzt nach anderthalb Jahrzehnten sei es aber an<lb/>
der Zeit, statt der wuchernd in die Lücken der Gesetze hineingeschobenen prak¬<lb/>
tischen Entscheidungen ein harmonisch ausgeführtes Gesetz zu stellen. Es gelte<lb/>
ferner, ein für die östlichen und westlichen Provinzen Preußens gleiches Straf¬<lb/>
proceßrecht zu schaffen. Aus diesen Erwägungen sei der vorliegende Entwurf<lb/>
entstanden, welcher kein neues Recht geben durfte noch wollte, sondern &#x201E;sich<lb/>
zur Richtschnur nimmt, sich, auch in der Ausführung des Einzelnen an das<lb/>
Bestehende so viel als möglich anzulehnen, weil nur auf diese Weise<lb/>
die mit diesem Rechtszustande verwebten Ergebnisse der Erfahrung und der<lb/>
Rechtsprechung für die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden können."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_56"> Daß die Vermuthung, die Einleitung sei verfrüht oder gar unrichtig, dem<lb/>
Inhalte des Entwurfes selbst gegenüber begründet ist, wird sich aus der näheren<lb/>
Betrachtung des letzteren ergeben. Diese soll sich vornehmlich auf einen Kern¬<lb/>
punk! jeder und so auch der hier entworfenen neuen Strafproceßordnung er¬<lb/>
strecken, auf das Schwurgericht und zwar zunächst auf dessen Kompetenz<lb/>
(Zuständigkeit). Die historische Einleitung aber des Entwurfs und seine ein¬<lb/>
gehende und entscheidende Beurtheilung erzwingen eine kurze historische Erörte¬<lb/>
rung, welche allen folgenden Punkten der Besprechung dient.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_57" next="#ID_58"> Das Untersuchungsprincip im Strafprocesse beruht darauf, daß der<lb/>
Staat schon bei der ersten Anzeige eines verübten Verbrechens, durch einen Be¬<lb/>
amten, der zugleich der Untersuchungsrichter ist, jede Spur des Verbrechens und<lb/>
alle Materialien zur Entdeckung des Thäters verfolgen, alle möglichen Beweis¬<lb/>
quellen benutzen, alle Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln läßt, damit<lb/>
aus Grund derselben der Richter ohne eine bestimmte Anklage urtheilen könne,<lb/>
welches Verbrechens jemand und in welchem Grade schuldig sei. Bei dem An-<lb/>
Nageprincip dagegen werden durch einen zur Verfolgung und Durchführung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0022] die fast glauben läßt, die Einleitung sei theilweise schon vor dem Entwürfe selbst abgefaßt. Denn sie athmet, wie es scheint, den Geist der Jahre 18S8 bis 1860. Nach Hinweis auf die Widersprüche der Criminalordnung und der wichtigsten Strafproceßgesetze vom 3. Januar 1849 und 3, Mai 1852 heißt es: „Es ist vielleicht nicht zu bedauern, daß die gesetzliche Ausbildung des Straf¬ verfahrens in so unvollkommenen Formen erfolgte. Die gerichtliche Praxis war nun genöthigt, ihrerseits die Lösung der Aufgabe zu überneh¬ men, welche der Gesetzgeber unerfüllt gelassen hatte. Ihr fiel es jetzt zu, die disparaten Elemente des ihren Händen übergebenen Strafproceßrechtes mit einander in Einklang zu bringen. Diese Art und Weise der Fortentwicklung unsres Strafproceßrechts hat den unläugbaren Vorzug gehabt, daß sie nicht aus blos theoretischen Constructionen hervorgegangen, sondern sich allmälig, nach Maßgabe der hervortretenden praktischen Bedürfnisse und Ersahrungen, und an der Hand der hierdurch in ihren Gesichtspunkten erweiterten wissenschaftlichen Erkenntniß vollzogen hat. Jetzt nach anderthalb Jahrzehnten sei es aber an der Zeit, statt der wuchernd in die Lücken der Gesetze hineingeschobenen prak¬ tischen Entscheidungen ein harmonisch ausgeführtes Gesetz zu stellen. Es gelte ferner, ein für die östlichen und westlichen Provinzen Preußens gleiches Straf¬ proceßrecht zu schaffen. Aus diesen Erwägungen sei der vorliegende Entwurf entstanden, welcher kein neues Recht geben durfte noch wollte, sondern „sich zur Richtschnur nimmt, sich, auch in der Ausführung des Einzelnen an das Bestehende so viel als möglich anzulehnen, weil nur auf diese Weise die mit diesem Rechtszustande verwebten Ergebnisse der Erfahrung und der Rechtsprechung für die Gesetzgebung nutzbar gemacht werden können." Daß die Vermuthung, die Einleitung sei verfrüht oder gar unrichtig, dem Inhalte des Entwurfes selbst gegenüber begründet ist, wird sich aus der näheren Betrachtung des letzteren ergeben. Diese soll sich vornehmlich auf einen Kern¬ punk! jeder und so auch der hier entworfenen neuen Strafproceßordnung er¬ strecken, auf das Schwurgericht und zwar zunächst auf dessen Kompetenz (Zuständigkeit). Die historische Einleitung aber des Entwurfs und seine ein¬ gehende und entscheidende Beurtheilung erzwingen eine kurze historische Erörte¬ rung, welche allen folgenden Punkten der Besprechung dient. Das Untersuchungsprincip im Strafprocesse beruht darauf, daß der Staat schon bei der ersten Anzeige eines verübten Verbrechens, durch einen Be¬ amten, der zugleich der Untersuchungsrichter ist, jede Spur des Verbrechens und alle Materialien zur Entdeckung des Thäters verfolgen, alle möglichen Beweis¬ quellen benutzen, alle Beweismittel gegen den Angeklagten sammeln läßt, damit aus Grund derselben der Richter ohne eine bestimmte Anklage urtheilen könne, welches Verbrechens jemand und in welchem Grade schuldig sei. Bei dem An- Nageprincip dagegen werden durch einen zur Verfolgung und Durchführung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/22
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/22>, abgerufen am 04.12.2024.