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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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spiel, daß der eine Tag die Angaben des vorigen demcntirt und discreditirt,
ja jeder einzelne von uns würde sich aus seinen Kreisen auf Geschichten besinnen
können, weiche vielfach wiedererzählt werden, ohne daß wir sie für wahr halten,
die edroiüque selmckllöusö, deutsch gesagt: der Klatsch, ist überall thätig und
es bat zu allen Zeiten auel an historischen Klatschgeschichten nicht gefehlt.
Man sagt es den meisten der Persönlichkeiten, welche die Gesellschaft als ge¬
wandte Erzähler lobt, nach, daß sie die Wahrheit gern mit etwas Dichtung
Versehen, daß sie ihre Geschichten ein wenig zu redigiren Pflegen, sie aufputzen
und zuspitzen. Und sollte es in der Geschichte anders sein? Bleibt ja doch selbst
beim besten Willen und der Absicht der größtmöglichster Wahrheitstreue die
Täuschung nicht ausgeschlossen, der unbedeutendste und klarste Gegenstand wird
niemals von zwei Gewährsmännern in gleicher Weise dargestellt, und derselbe
Erzähler wird, wenn er dieselbe Geschichte mehrmals erzählt, sich nicht ganz
gleich bleiben, kurz es ist. wie Sybel es ausdrückt (S. 9). psychologische That¬
sache, daß kein objectiver Thatbestand durch die Ausfassung und Darstellung
eines Menschengeistes hindurchgeht, ohne aus der Substanz dieses Geistes mehr
oder minder erhebliche Umwandlung zu erleiden.

Freilich Pflegen grade aus solchen Wahrnehmungen manche Gegner der
historischen Kritik überhaupt ihre Waffen herzunehmen. Sie sagen: eben weil
jede menschliche Ueberlieferung so sehr dem Irrthum und der Täuschung aus¬
gesetzt ist. erscheint es wenig zweckmäßig, mit so rigoroser Kritik gegen Einzel¬
nes vorzugehen, während doch das Uebrige. was ihr uns großmüthig lassen
wollt, keineswegs so fest steht, daß es nicht auch dem Zweifel erreichbar wäre.
Wo ist die Grenze -- sollen wir uns Geschichten, die sich jahrhundertlang im
Bewußtsein des Volkes fest eingelebt haben, nun auf einmal rauben lassen, blos
weil einige zweifclsüchtige Kritiker finden, daß sie einige Procent mehr.von der
Unsicherheit an sich tragen, die aller menschlichen Ueberlieferung anhaftet? Und
soll die oft beklagte nivellirende Tendenz der Zeit auch auf die Geschichte aus¬
gedehnt werden, sollen auch hier alle charakteristischen individuellen Züge heraus¬
gebrochen werden, damit endlich nur der dem kahlen Verstände mundgerechte
allgemeine welthistorische Brei übrig bleibe?

Solche Einwürfe theoretisch zu widerlegen wäre hier nicht der Ort, aber
wohl darf man Thatsachen ihnen entgegenhalten und z. B. darauf aufmerksam
machen, daß, wie sehr auch sonst grade in der Geschichte die Standpunkte und
die aus ihnen abgeleiteten Urtheile differiren, doch über die Kritik der That¬
sachen in der wissenschaftlichen Welt eine merkwürdige Uebereinstimmung herrscht,
die Verbiete des unsichtbaren Areopags der öffentlichen Meinung finden hier die
vollständigste Anerkennung und ich glaube von allen den hier angeführten Ge-
schichten behaupten zu können, daß sie in den Kreisen der Wissenschaft allgemein
für rechtskräftig verurtheilt gelten, während wir andrerseits z. B. in dem an-


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spiel, daß der eine Tag die Angaben des vorigen demcntirt und discreditirt,
ja jeder einzelne von uns würde sich aus seinen Kreisen auf Geschichten besinnen
können, weiche vielfach wiedererzählt werden, ohne daß wir sie für wahr halten,
die edroiüque selmckllöusö, deutsch gesagt: der Klatsch, ist überall thätig und
es bat zu allen Zeiten auel an historischen Klatschgeschichten nicht gefehlt.
Man sagt es den meisten der Persönlichkeiten, welche die Gesellschaft als ge¬
wandte Erzähler lobt, nach, daß sie die Wahrheit gern mit etwas Dichtung
Versehen, daß sie ihre Geschichten ein wenig zu redigiren Pflegen, sie aufputzen
und zuspitzen. Und sollte es in der Geschichte anders sein? Bleibt ja doch selbst
beim besten Willen und der Absicht der größtmöglichster Wahrheitstreue die
Täuschung nicht ausgeschlossen, der unbedeutendste und klarste Gegenstand wird
niemals von zwei Gewährsmännern in gleicher Weise dargestellt, und derselbe
Erzähler wird, wenn er dieselbe Geschichte mehrmals erzählt, sich nicht ganz
gleich bleiben, kurz es ist. wie Sybel es ausdrückt (S. 9). psychologische That¬
sache, daß kein objectiver Thatbestand durch die Ausfassung und Darstellung
eines Menschengeistes hindurchgeht, ohne aus der Substanz dieses Geistes mehr
oder minder erhebliche Umwandlung zu erleiden.

Freilich Pflegen grade aus solchen Wahrnehmungen manche Gegner der
historischen Kritik überhaupt ihre Waffen herzunehmen. Sie sagen: eben weil
jede menschliche Ueberlieferung so sehr dem Irrthum und der Täuschung aus¬
gesetzt ist. erscheint es wenig zweckmäßig, mit so rigoroser Kritik gegen Einzel¬
nes vorzugehen, während doch das Uebrige. was ihr uns großmüthig lassen
wollt, keineswegs so fest steht, daß es nicht auch dem Zweifel erreichbar wäre.
Wo ist die Grenze — sollen wir uns Geschichten, die sich jahrhundertlang im
Bewußtsein des Volkes fest eingelebt haben, nun auf einmal rauben lassen, blos
weil einige zweifclsüchtige Kritiker finden, daß sie einige Procent mehr.von der
Unsicherheit an sich tragen, die aller menschlichen Ueberlieferung anhaftet? Und
soll die oft beklagte nivellirende Tendenz der Zeit auch auf die Geschichte aus¬
gedehnt werden, sollen auch hier alle charakteristischen individuellen Züge heraus¬
gebrochen werden, damit endlich nur der dem kahlen Verstände mundgerechte
allgemeine welthistorische Brei übrig bleibe?

Solche Einwürfe theoretisch zu widerlegen wäre hier nicht der Ort, aber
wohl darf man Thatsachen ihnen entgegenhalten und z. B. darauf aufmerksam
machen, daß, wie sehr auch sonst grade in der Geschichte die Standpunkte und
die aus ihnen abgeleiteten Urtheile differiren, doch über die Kritik der That¬
sachen in der wissenschaftlichen Welt eine merkwürdige Uebereinstimmung herrscht,
die Verbiete des unsichtbaren Areopags der öffentlichen Meinung finden hier die
vollständigste Anerkennung und ich glaube von allen den hier angeführten Ge-
schichten behaupten zu können, daß sie in den Kreisen der Wissenschaft allgemein
für rechtskräftig verurtheilt gelten, während wir andrerseits z. B. in dem an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/17>, abgerufen am 12.12.2024.