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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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den erst werdenden, schwankenden Verhältnissen der Neuzeit möglich. Und so
handelte es sich für die Architektur nicht sowohl um die Aneignung und selb¬
ständige Verarbeitung überlieferter Formen -- ein Proceß, den jede Bauperiode
durchzumachen hat -- als um ein nachbildendes Aufnehmen früherer, wenn
auch freigewählter Stile. .

Dem classischen Alterthum, dem sich die beginnende Epoche in ihrer Rück¬
kehr zur Natur und in ihrem Trieb nach allseitiger Entfaltung des menschlichen
Geistes verwandt fühlte, wandte sich nach dem Vorgang der Dichtung auch die
Kunst zu. Winckelmann und Lessing hatten dem Verständniß der Antike Bahn
gebrochen. In ihr war die Schönheit der vollendeten Form als das
Princip der Kunst ncuentdeckt, und diese wurde nun das Losungswort nicht
blos der betrachtenden, sondern auch der schaffenden Phantasie. Und wie wenn
alsbald die deutsche Kunst nachholen wollte, was sie Jahrhunderte lang ver¬
säumt hatte, nämlich die Bildung der schönen Gestalt als solcher: so ergab sie
sich jetzt eifriger, unbefangener und eindringender wie jede andere dem Studium
und der Nachbildung der Antike. Nicht in sklavischer Nachahmung, denn sie
erkannte, daß die classische Schönheit eine ewig giltige Schöpfung der mensch¬
lichen Phantasie selber sei und sich daher ihren Formen der Athem eines neuen
Lebens einhauchen lasse. Aber auch nicht mit selbständiger, freigestaltender
Kraft; denn dazu hätte sie die Form überhaupt beherrschen und andrerseits aus
dem allgemeinen Bewußtsein schon feste Vorstellungen empfangen haben müssen.
So nahm sie zwischen Schaffen und Nachbilden ein schwankendes, mittleres
Verhältniß an. Und auch hier war die Architektur als die strengere Kunst,
welche das willkürliche Spiel der Phantasie ausschließt, eher auf engen An¬
schluß als auf eine freie Beziehung angewiesen. Nicht nur die Einzelformen
entlehnte sie der Antike, sondern ihren ganzen Organismus; die noch unent¬
wickelte Anschauung ging bei den Alten in die Schule und schmiegte sich ihnen
an. selbst die modernen Bedürfnisse mußten sich dem Ganzen der Bauformen
fügen, das im Alterthum durch Zeit, Land und Sitte bedingt war. Wie eine
Gewalt kam die Antike über die noch zählende, suchende Phantasie der neuen
Zeit und formte sie wie weiches Wachs in ihren festen Model. In Frankreich
und England entnahm man classischen Bauresten geradezu die Gestalt für christ¬
liche Kirchen, in Berlin z. B. den Propyläen der Akropolis das Motiv für
das Brandenburger Thor.

So oft mit verjüngter Kraft die Cultur der neuen Welt eine neue Stufe
der Entwickelung betrat: immer geschah es an der Hand der Griechen und
Römer. Aber unserer Zeit ist eigen, daß sie mit entschiedenem Bewußtsein in
die alte Welt tiefer einzudringen sucht, wie jede andere, in ihr die einzig feste
Grundlage aller Bildung und Gesittung findet. Daher übersprang sie in der
ersten jugendlichen Begeisterung alle Zwischenstufen der Vergangenheit, ja, nicht


den erst werdenden, schwankenden Verhältnissen der Neuzeit möglich. Und so
handelte es sich für die Architektur nicht sowohl um die Aneignung und selb¬
ständige Verarbeitung überlieferter Formen — ein Proceß, den jede Bauperiode
durchzumachen hat — als um ein nachbildendes Aufnehmen früherer, wenn
auch freigewählter Stile. .

Dem classischen Alterthum, dem sich die beginnende Epoche in ihrer Rück¬
kehr zur Natur und in ihrem Trieb nach allseitiger Entfaltung des menschlichen
Geistes verwandt fühlte, wandte sich nach dem Vorgang der Dichtung auch die
Kunst zu. Winckelmann und Lessing hatten dem Verständniß der Antike Bahn
gebrochen. In ihr war die Schönheit der vollendeten Form als das
Princip der Kunst ncuentdeckt, und diese wurde nun das Losungswort nicht
blos der betrachtenden, sondern auch der schaffenden Phantasie. Und wie wenn
alsbald die deutsche Kunst nachholen wollte, was sie Jahrhunderte lang ver¬
säumt hatte, nämlich die Bildung der schönen Gestalt als solcher: so ergab sie
sich jetzt eifriger, unbefangener und eindringender wie jede andere dem Studium
und der Nachbildung der Antike. Nicht in sklavischer Nachahmung, denn sie
erkannte, daß die classische Schönheit eine ewig giltige Schöpfung der mensch¬
lichen Phantasie selber sei und sich daher ihren Formen der Athem eines neuen
Lebens einhauchen lasse. Aber auch nicht mit selbständiger, freigestaltender
Kraft; denn dazu hätte sie die Form überhaupt beherrschen und andrerseits aus
dem allgemeinen Bewußtsein schon feste Vorstellungen empfangen haben müssen.
So nahm sie zwischen Schaffen und Nachbilden ein schwankendes, mittleres
Verhältniß an. Und auch hier war die Architektur als die strengere Kunst,
welche das willkürliche Spiel der Phantasie ausschließt, eher auf engen An¬
schluß als auf eine freie Beziehung angewiesen. Nicht nur die Einzelformen
entlehnte sie der Antike, sondern ihren ganzen Organismus; die noch unent¬
wickelte Anschauung ging bei den Alten in die Schule und schmiegte sich ihnen
an. selbst die modernen Bedürfnisse mußten sich dem Ganzen der Bauformen
fügen, das im Alterthum durch Zeit, Land und Sitte bedingt war. Wie eine
Gewalt kam die Antike über die noch zählende, suchende Phantasie der neuen
Zeit und formte sie wie weiches Wachs in ihren festen Model. In Frankreich
und England entnahm man classischen Bauresten geradezu die Gestalt für christ¬
liche Kirchen, in Berlin z. B. den Propyläen der Akropolis das Motiv für
das Brandenburger Thor.

So oft mit verjüngter Kraft die Cultur der neuen Welt eine neue Stufe
der Entwickelung betrat: immer geschah es an der Hand der Griechen und
Römer. Aber unserer Zeit ist eigen, daß sie mit entschiedenem Bewußtsein in
die alte Welt tiefer einzudringen sucht, wie jede andere, in ihr die einzig feste
Grundlage aller Bildung und Gesittung findet. Daher übersprang sie in der
ersten jugendlichen Begeisterung alle Zwischenstufen der Vergangenheit, ja, nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/116>, abgerufen am 26.06.2024.