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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Vorbild zu nehmen: so wenig kann es unsere Sache sein, die gothische Bauart
wieder ins Leben zu rufen. Ungünstig genug ist der Boden des neunzehnten
Jahrhunderts sür eine neue Kunstblüthe, daß man seine wenigen glücklichen
Anlagen zu einem neuen Aufschwung nicht auch noch vernichten sollte. Zu
diesen aber gehört vor allem die Freiheit der Anschauung, in dem Kunstwerk
nichts zu suchen, als die vollendete Form eines harmonisch und voll ent¬
wickelten Lebens: ohne Vorliebe für eine ganz besondere Empfindung und
Stimmung, sei sie nun religiöser oder weltlicher Art.

Überdies, nur ärmliche Nachahmer wären wir jener Bauart, schwächliche,
herabgekommene Enkel, die den Glanz des einst mächtigen, nun aber verfallenen
Hauses nicht wiederherstellen könnten. Unsere Kraft und Größe richtet sich auf
ganz andere Ziele, als diejenigen waren, denen jene Architektur diente. Den
alles in Bewegung sehenden Baueifer, mit welchem das Mittelalter seine
Münster aufführte, können wir nicht mehr aufbringen; mit den zweideutigen
Mitteln einer künstlich erhitzten Empfindung und einer gemachten Anstrengung
fördern wir mühsam nur ein schwächliches Abbild zu Tage, aus dessen ge¬
zwungener Einfachheit nur das nüchterne Wesen des Stils und die Leere der
nachahmenden Phantasie sprechen. Nur die verschwenderische Häufung, der
Ueberfluß der Formen (der dennoch von dem Gesetz des Ganzen zusammen¬
gehalten wird), giebt dem gothischen Bau das Gepräge eines Kunstwerkes.
Wo dieser Reichthum fehlt, da kommt der im Grunde arme und phantasielose
Charakter der Bauart unverhüllt zu Tage. Und so verhält es sich überall mehr
oder minder mit der modernen Gothik. In Wien ist sie durch den be¬
gabten Fr. Schmidt noch am besten vertreten. Können aber auch die dort
entstehenden neuen Kirchen (neben ihnen ein gothisches Lyceum!) jene Armuth
und die Kälte der Nachbildung nicht verläugnen: so tritt an den Münchener
Versuchen -- der Kirche in der Vorstadt Haidhausen. den Restau¬
rationen der Frauenkirche und des Rathhauses -- das Schwäch¬
liche einer beschränkten und zudem ungeschickten Nachahmung um so greller
ans Licht.

Was zunächst jene Kirche anlangt, so hat der Architekt dem einschiffigen
Bau ein flaches Netzgcwöibe gegeben und die ganz mageren dünnen Dienste der
kraftlos vrosilirten Rippen aus den Capitälen von Säulen aufsteigen lassen, welche
auf überhoben Basamenten ruhen: eine unschöne Form, in der sich die Wölbung
gleichsam zersplittert und der aus den Pfeilern frei aufwachsenden Bewegung
entbehrt. Gerade solche unglückliche Eigenheiten der späteren Gothik sollte man
am wenigste" nachahmen. Da der Seitensch'ub der flachen Bedeckung sehr stark
ist. bedürfte es massiger Pfeiler, die fast ganz in das Innere hereingezogen
sind. Das kommt häusig vor (so auch in der Münchener Frauenkirche); in guten
Mustern -- namentlich in norddeutschen Ziegelbaukirchen -- sind dann die


Vorbild zu nehmen: so wenig kann es unsere Sache sein, die gothische Bauart
wieder ins Leben zu rufen. Ungünstig genug ist der Boden des neunzehnten
Jahrhunderts sür eine neue Kunstblüthe, daß man seine wenigen glücklichen
Anlagen zu einem neuen Aufschwung nicht auch noch vernichten sollte. Zu
diesen aber gehört vor allem die Freiheit der Anschauung, in dem Kunstwerk
nichts zu suchen, als die vollendete Form eines harmonisch und voll ent¬
wickelten Lebens: ohne Vorliebe für eine ganz besondere Empfindung und
Stimmung, sei sie nun religiöser oder weltlicher Art.

Überdies, nur ärmliche Nachahmer wären wir jener Bauart, schwächliche,
herabgekommene Enkel, die den Glanz des einst mächtigen, nun aber verfallenen
Hauses nicht wiederherstellen könnten. Unsere Kraft und Größe richtet sich auf
ganz andere Ziele, als diejenigen waren, denen jene Architektur diente. Den
alles in Bewegung sehenden Baueifer, mit welchem das Mittelalter seine
Münster aufführte, können wir nicht mehr aufbringen; mit den zweideutigen
Mitteln einer künstlich erhitzten Empfindung und einer gemachten Anstrengung
fördern wir mühsam nur ein schwächliches Abbild zu Tage, aus dessen ge¬
zwungener Einfachheit nur das nüchterne Wesen des Stils und die Leere der
nachahmenden Phantasie sprechen. Nur die verschwenderische Häufung, der
Ueberfluß der Formen (der dennoch von dem Gesetz des Ganzen zusammen¬
gehalten wird), giebt dem gothischen Bau das Gepräge eines Kunstwerkes.
Wo dieser Reichthum fehlt, da kommt der im Grunde arme und phantasielose
Charakter der Bauart unverhüllt zu Tage. Und so verhält es sich überall mehr
oder minder mit der modernen Gothik. In Wien ist sie durch den be¬
gabten Fr. Schmidt noch am besten vertreten. Können aber auch die dort
entstehenden neuen Kirchen (neben ihnen ein gothisches Lyceum!) jene Armuth
und die Kälte der Nachbildung nicht verläugnen: so tritt an den Münchener
Versuchen — der Kirche in der Vorstadt Haidhausen. den Restau¬
rationen der Frauenkirche und des Rathhauses — das Schwäch¬
liche einer beschränkten und zudem ungeschickten Nachahmung um so greller
ans Licht.

Was zunächst jene Kirche anlangt, so hat der Architekt dem einschiffigen
Bau ein flaches Netzgcwöibe gegeben und die ganz mageren dünnen Dienste der
kraftlos vrosilirten Rippen aus den Capitälen von Säulen aufsteigen lassen, welche
auf überhoben Basamenten ruhen: eine unschöne Form, in der sich die Wölbung
gleichsam zersplittert und der aus den Pfeilern frei aufwachsenden Bewegung
entbehrt. Gerade solche unglückliche Eigenheiten der späteren Gothik sollte man
am wenigste» nachahmen. Da der Seitensch'ub der flachen Bedeckung sehr stark
ist. bedürfte es massiger Pfeiler, die fast ganz in das Innere hereingezogen
sind. Das kommt häusig vor (so auch in der Münchener Frauenkirche); in guten
Mustern — namentlich in norddeutschen Ziegelbaukirchen — sind dann die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/522>, abgerufen am 23.07.2024.