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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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hat, verborgen ist. So find für die Anschauung Zweck und Mittel auseinander-
gerissen. Aber auch durch das Innere wird diese nicht befriedigt, da sie hier
für den sichtbaren Seitenschub der Gewölbrippen, den die allzuschlanken Pfeiler
nicht vollständig aufzufangen vermögen, das Widerlager vermissen muß. Also
überall der Ausdruck ungeheurer Anstrengung; aber dem Auge fehlt das sichere
Ineinandergreifen der Kräfte. Jede einzelne Form, für sich bedeutungslos, hat
nur Sinn und Leben in Bezug auf andere und das Ganze; aber es fehlt der
Schein der freien harmonischen Vermittlung. Auch nach diesen Momenten ist
die Architektur das Bild des damaligen Lebens. Wie in jener die Natur des
Stoffes besiegt ist und doch wieder in ihren Fesseln trotzig sich aufwirft, die
Macht seiner Schwere gerade in der Anstrengung, welche der Sieg kostet, sich
bekundet: so bäumt im Mitielalter die Sinnlichkeit, vom Geiste verläugnet,
nur um so mächtiger und eigensinniger sich auf. Und wie dort die Einzelform
selbstlos ist, an die Gesammtheit gebunden, und doch wieder ohne inneres leben¬
diges Verhältniß zu ihr den Schein selbständiger Existenz annimmt, so ist hier
die Individualität innerlich unfrei, äußerlich spröde, stachlig und eckig, gefangen
in den Fesseln der hergebrachten Sitte und im Buchstabendienste des Glaubens
und doch wieder ihren Launen und Einfällen, dem Spiel einer phantastischen
Willkür schrankenlos hingegeben.

Und das ist überhaupt der Charakter des ausgebildeten gothischen Stils
wie seine Wirkung: ein unvermitteltes Nebeneinander von blinder mathema¬
tischer Nothwendigkeit und phantastischer Willkür. Denn die bloße Durchfüh¬
rung des structiven Gesetzes, weiche als solche sich aussprechen will und daher
an sich keinen andern Schmuck duldet, als den Ausdruck der Structur selber,
befriedigt den bildenden Trieb der Phantasie nicht. Dieser ergreift daher das
Schema der gegebenen Formen, um sie in einer Fülle zahlloser Combinationen
über das Baugerüst auszubreiten. Er wird dieses Spiels nicht müde und kann
kein Ende finden, da jede neue Zierde nur eine Variation desselben The¬
mas ist. So ist schließlich der streng gemessene Bau in eine endlose aber ein¬
förmige Mannigfaltigkeit von Einzelheiten aufgelöst, die feste Grundgestalt in
das Netz von Stäben und Maßwerk, in die Spitzen der Fialen und Weinperge
zerstoben. Das Ornament, das jedes für sich dem strengen Princip des Gan¬
zen unterworfen ist, hat schließlich in seine Vielheit die Hauptformen verschlun¬
gen und aufgezehrt.

Wie es so dem Bau an der klaren übersichtlichen Gesammtform gebricht,
so fehlt ihm auch die künstlerische Erscheinung der in sich ruhenden Festigkeit,
der aus sich gewachsenen, in sich abgerundeten Gestalt. Der Triumph der
Structur läßt das Knochengerüst in seiner nackten Thätigfeit hervortreten und
verschmäht jede Bekleidung, die selber nicht wieder ein strebendes Gerüst im
Kleinen ist. Der Stil verachtet das Vorbild des organischen Lebens, da^ den


hat, verborgen ist. So find für die Anschauung Zweck und Mittel auseinander-
gerissen. Aber auch durch das Innere wird diese nicht befriedigt, da sie hier
für den sichtbaren Seitenschub der Gewölbrippen, den die allzuschlanken Pfeiler
nicht vollständig aufzufangen vermögen, das Widerlager vermissen muß. Also
überall der Ausdruck ungeheurer Anstrengung; aber dem Auge fehlt das sichere
Ineinandergreifen der Kräfte. Jede einzelne Form, für sich bedeutungslos, hat
nur Sinn und Leben in Bezug auf andere und das Ganze; aber es fehlt der
Schein der freien harmonischen Vermittlung. Auch nach diesen Momenten ist
die Architektur das Bild des damaligen Lebens. Wie in jener die Natur des
Stoffes besiegt ist und doch wieder in ihren Fesseln trotzig sich aufwirft, die
Macht seiner Schwere gerade in der Anstrengung, welche der Sieg kostet, sich
bekundet: so bäumt im Mitielalter die Sinnlichkeit, vom Geiste verläugnet,
nur um so mächtiger und eigensinniger sich auf. Und wie dort die Einzelform
selbstlos ist, an die Gesammtheit gebunden, und doch wieder ohne inneres leben¬
diges Verhältniß zu ihr den Schein selbständiger Existenz annimmt, so ist hier
die Individualität innerlich unfrei, äußerlich spröde, stachlig und eckig, gefangen
in den Fesseln der hergebrachten Sitte und im Buchstabendienste des Glaubens
und doch wieder ihren Launen und Einfällen, dem Spiel einer phantastischen
Willkür schrankenlos hingegeben.

Und das ist überhaupt der Charakter des ausgebildeten gothischen Stils
wie seine Wirkung: ein unvermitteltes Nebeneinander von blinder mathema¬
tischer Nothwendigkeit und phantastischer Willkür. Denn die bloße Durchfüh¬
rung des structiven Gesetzes, weiche als solche sich aussprechen will und daher
an sich keinen andern Schmuck duldet, als den Ausdruck der Structur selber,
befriedigt den bildenden Trieb der Phantasie nicht. Dieser ergreift daher das
Schema der gegebenen Formen, um sie in einer Fülle zahlloser Combinationen
über das Baugerüst auszubreiten. Er wird dieses Spiels nicht müde und kann
kein Ende finden, da jede neue Zierde nur eine Variation desselben The¬
mas ist. So ist schließlich der streng gemessene Bau in eine endlose aber ein¬
förmige Mannigfaltigkeit von Einzelheiten aufgelöst, die feste Grundgestalt in
das Netz von Stäben und Maßwerk, in die Spitzen der Fialen und Weinperge
zerstoben. Das Ornament, das jedes für sich dem strengen Princip des Gan¬
zen unterworfen ist, hat schließlich in seine Vielheit die Hauptformen verschlun¬
gen und aufgezehrt.

Wie es so dem Bau an der klaren übersichtlichen Gesammtform gebricht,
so fehlt ihm auch die künstlerische Erscheinung der in sich ruhenden Festigkeit,
der aus sich gewachsenen, in sich abgerundeten Gestalt. Der Triumph der
Structur läßt das Knochengerüst in seiner nackten Thätigfeit hervortreten und
verschmäht jede Bekleidung, die selber nicht wieder ein strebendes Gerüst im
Kleinen ist. Der Stil verachtet das Vorbild des organischen Lebens, da^ den


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[0496] hat, verborgen ist. So find für die Anschauung Zweck und Mittel auseinander- gerissen. Aber auch durch das Innere wird diese nicht befriedigt, da sie hier für den sichtbaren Seitenschub der Gewölbrippen, den die allzuschlanken Pfeiler nicht vollständig aufzufangen vermögen, das Widerlager vermissen muß. Also überall der Ausdruck ungeheurer Anstrengung; aber dem Auge fehlt das sichere Ineinandergreifen der Kräfte. Jede einzelne Form, für sich bedeutungslos, hat nur Sinn und Leben in Bezug auf andere und das Ganze; aber es fehlt der Schein der freien harmonischen Vermittlung. Auch nach diesen Momenten ist die Architektur das Bild des damaligen Lebens. Wie in jener die Natur des Stoffes besiegt ist und doch wieder in ihren Fesseln trotzig sich aufwirft, die Macht seiner Schwere gerade in der Anstrengung, welche der Sieg kostet, sich bekundet: so bäumt im Mitielalter die Sinnlichkeit, vom Geiste verläugnet, nur um so mächtiger und eigensinniger sich auf. Und wie dort die Einzelform selbstlos ist, an die Gesammtheit gebunden, und doch wieder ohne inneres leben¬ diges Verhältniß zu ihr den Schein selbständiger Existenz annimmt, so ist hier die Individualität innerlich unfrei, äußerlich spröde, stachlig und eckig, gefangen in den Fesseln der hergebrachten Sitte und im Buchstabendienste des Glaubens und doch wieder ihren Launen und Einfällen, dem Spiel einer phantastischen Willkür schrankenlos hingegeben. Und das ist überhaupt der Charakter des ausgebildeten gothischen Stils wie seine Wirkung: ein unvermitteltes Nebeneinander von blinder mathema¬ tischer Nothwendigkeit und phantastischer Willkür. Denn die bloße Durchfüh¬ rung des structiven Gesetzes, weiche als solche sich aussprechen will und daher an sich keinen andern Schmuck duldet, als den Ausdruck der Structur selber, befriedigt den bildenden Trieb der Phantasie nicht. Dieser ergreift daher das Schema der gegebenen Formen, um sie in einer Fülle zahlloser Combinationen über das Baugerüst auszubreiten. Er wird dieses Spiels nicht müde und kann kein Ende finden, da jede neue Zierde nur eine Variation desselben The¬ mas ist. So ist schließlich der streng gemessene Bau in eine endlose aber ein¬ förmige Mannigfaltigkeit von Einzelheiten aufgelöst, die feste Grundgestalt in das Netz von Stäben und Maßwerk, in die Spitzen der Fialen und Weinperge zerstoben. Das Ornament, das jedes für sich dem strengen Princip des Gan¬ zen unterworfen ist, hat schließlich in seine Vielheit die Hauptformen verschlun¬ gen und aufgezehrt. Wie es so dem Bau an der klaren übersichtlichen Gesammtform gebricht, so fehlt ihm auch die künstlerische Erscheinung der in sich ruhenden Festigkeit, der aus sich gewachsenen, in sich abgerundeten Gestalt. Der Triumph der Structur läßt das Knochengerüst in seiner nackten Thätigfeit hervortreten und verschmäht jede Bekleidung, die selber nicht wieder ein strebendes Gerüst im Kleinen ist. Der Stil verachtet das Vorbild des organischen Lebens, da^ den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/496>, abgerufen am 23.07.2024.